Gut neun Monate lang hat das politische London Zeit gehabt, sich an die neue Regierungschefin zu gewöhnen. Für die allermeisten gilt noch immer jene Einschätzung, die Theresa Mays Biografin Rosa Prince im Titel ihres Buches "Die rätselhafte Premierministerin" zusammenfasst. Souverän hat die 60-Jährige vergangene Woche auf den Terroranschlag von Westminster reagiert, kühl hält sie ihr Kabinett zusammen und die schwache Opposition auf Distanz. Mit ihrem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk, den die britische Premierministerin am Dienstagabend unterzeichnete und am Mittwoch gegen 13.30 Uhr (MESZ) an Tusk übergeben wird, läutet die Konservative nicht nur den Austritt der Insel aus den Brüsseler Institutionen und damit eine komplette Neuordnung der britischen Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik ein. Sie stellt sich auch persönlich einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.

Theresa May spricht am Mittwoch im britischen House of Commons.
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Sie mache das "genau richtig", freut sich der unabhängige Abgeordnete Douglas Carswell, der vor seinem kürzlichen Austritt bei Ukip den Konservativen angehörte. Brexit-Minister David Davis wird in der Öffentlichkeit nie müde, das Loblied auf seine Chefin zu singen. Deren Rede im Lancaster-Haus, Grundlage des Austritts-Weißbuches der Regierung, rühmt der Minister als wegweisende Strategie. Die Offenheit der weltweit sechstgrößten Industrienation wird darin betont, das Interesse an Handelsbeziehungen zu Europa bekräftigt, Kompromissbereitschaft beteuert. Aber May hat auch den Satz gesagt: "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal" – notfalls werde die Insel ohne jede Übergangslösung aus der Union ausscheiden.

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Theresa May hat am Dienstagabend den Brief an die EU unterzeichnet, mit dem ihre Regierung am Mittwoch den Brexit beantragen will. May setzte im Regierungssitz in der Downing Street ihre Unterschrift unter das historische Dokument.
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Wohlgemerkt: Dieser Satz fiel nicht in der Hitze eines Wortgefechts im Unterhaus, sondern am Ende einer ausgefeilten Rede. Manifestiert sich da der Optimismus jener englischen Nationalisten, die instinktiv an die Überlegenheit ihres Landes gegenüber den korrupten Gesellschaften Europas glauben? Oder sehen wir die unbewegliche Maske einer beherzten Pokerspielerin, die zu Beginn langwieriger Verhandlungen ihren ersten Bluff vorführt?

Wandel einer Politikerin

Im Referendumskampf trat die damalige Innenministerin als wenig begeisterte Befürworterin des EU-Verbleibs auf. Seit sie im Juli ihren Vorgänger David Cameron beerbte, ist das anders. "Brexit bedeutet Brexit" richtete sich auch an die eigene Partei, beschwor deren Einigkeit, bugsierte die EU-Freunde in die Stänkerer-Ecke.

Sie werde den Brexit zum Erfolg machen, behauptet May unverdrossen, redet von den Chancen des "unabhängigen Landes", bewarb sich artig als erste ausländische Regierungschefin bei US-Präsident Donald Trump um Vorzugsbehandlung.

Programmatische Rede von Theresa May zum Brexit vom 17. Jänner 2017.
euronews (in English)

In Europa hingegen haben sie und ihre Regierung sich bisher wenig Freunde gemacht. Dabei komme es in EU-Verhandlungen eben nicht nur auf Interessen, sondern auch auf das persönliche Verhältnis an, mahnt der konservative Ex-Premier John Major. Er, der an diesem Mittwoch 74 Jahre alt wird, muss es wissen: In seine Amtszeit (1990 bis 1997) fielen die schwierigen Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht, der den Weg zum Euro freimachte und den Briten den eigenen Weg innerhalb der EU garantierte.

Zurückhaltend, verschlossen

Charme aber gehört, vorsichtig gesagt, nicht zu Mays Stärken. Anders als bei Vorgänger David Cameron sei das Regierungshandeln in der Downing Street unter May "zurückhaltend, verschlossen, zu Allianzen unfähig", hat Labour-Spitzenpolitiker Keir Starmer beobachtet. Parteifreunde der Vorsitzenden werden hinter vorgehaltener Hand deutlicher und sprechen von einem "hermetischen Bunker: Sie führt die Zügel sehr straff."

Entscheidungen trifft May nach umfassender Aktenlektüre am liebsten nachts und allein. Außer den beiden Büroleitern Fiona Hill und Nick Timothy wird dem Vernehmen nach höchstens Ehemann Philip nach seiner Meinung gefragt. Außenhandelsminister Liam Fox und Außenminister Boris Johnson gelten als einflusslos.

Die britischen Berufsdiplomaten machen sich Sorgen darüber, ob May in den komplizierten EU-Verhandlungen die nötige Flexibilität aufbringen kann. Von diesem Mittwoch an bleiben der Engländerin genau zwei Jahre, um diese Zweifel zu zerstreuen. (Sebastian Borger aus London, 29.3.2107)

Langer Abschied: Die Verhandlungen über den Brexit werden mindestens zwei Jahre dauern. Am Mittwoch um 13.30 Uhr wird der britische Austrittsantrag eingebracht.
Foto: AFP/Leal