Retroinszenierung: Richard Strauss' "Elektra" nach der Regie der 1996 verstorbenen Ruth Berghaus in Lyon.

Foto: Stofleth

Intendant Serge Dorny versteht es, das Stagionehaus zu füllen und zu vermarkten: einheimisches, auch junges Publikum mit einem originellen Programm binden ohne Anbiedern. Das hat der Flame bei Mortier gelernt und so erfolgreich in der Oper von Lyon praktiziert, dass ihn die sächsische Kulturpolitik in einem Anfall von progressivem Wagemut an die Semperoper holen wollte.

Das scheiterte an Unverträglichkeiten, hinter denen alle Welt den in Dresden übermächtigen Christian Thielemann vermutet. Dorny hat in Dresden geklagt und gewonnen. Er macht erst einmal in Lyon weiter und bleibt so im Geschäft.

Hingucker-Festival

Für sein alljährliches thematisches Hinguckerfestival im März hat er sich diesmal etwas einfallen lassen, was von manchen Auguren gleich zu einem neuen Retro-Trend erhoben wird. Weil man zufällig zu Ostern in Salzburg mit der Karajan-Walküre (unter Thielemann) so was Ähnliches vorhat. Dorny hat unter dem Motto Mémoire drei zu ihrer Zeit als spektakulär geltende Inszenierungen rekonstruieren und neu einstudieren lassen.

Ob Klaus Michael Grübers Krönung der Poppea, die 2000 das erste Mal in Aix-en-Provence über die Freiluftbühne des Théâtre de l'Archevêché ging, wirklich in diese Rubrik gehört, darüber kann man (erst recht jetzt nach der Wiederbegegnung) geteilter Meinung bleiben. Nicht nur, weil die laue Sommernachtluft, die die hübsch behäbige Bebilderung seinerzeit verschönerte, im berühmten Theater in der Vorstadt Villeurbanne heuer fehlte und sich der Sängernachwuchs ausprobieren durfte.

DDR-Theatergenies

Mit den Hauptproduktionen freilich verhält es sich anders. Das fängt schon mit den beiden so verschiedenen Theatergenies Ruth Berghaus (1927-1996) und Heiner Müller (1929-1995) an, die auch dann noch mit der DDR verbunden blieben, als sie mit den dort Herrschenden aneinandergerieten.

Die Elektra-Inszenierung der auf Eigensinn und Perfektion bestehenden und die Ästhetik ganzer Generationen prägenden Regisseurin Berghaus lief seit 1986 noch bis vor kurzem an der Semperoper. Der Sprungturm, den Hans Dieter Schaal hinter dem auf die Bühne postierten, groß besetzten Orchester wiederauferstehen ließ, passt als metaphorischer Raum wie maßgeschneidert in die dunkel nüchterne Arena in Lyon. Hier lenkt kein Prunk vom Verhängnis ab.

Das gilt auch für den instinktiven szenischen Geniestreich des immer verqueren Autors und Regisseurs Heiner Müller bei seinem Operndebüt, das 1993 gleich mit dem Tristan und gleich in Bayreuth über die Bühne ging – und Furore machte. Auch hier ist es die Ästhetik der Reduktion, die besticht.

Die Neu-Bayreuther Statuarik der Figuren umrahmt Erich Wonder zunächst mit der ruhigen Farbenpracht, die von Marc Rothko inspiriert scheint. Dem fügt er ein metaphorisches Unterholz aus Harnischen und schließlich einen grauen Schotterboden à la Anselm Kiefer hinzu. Nicht zuletzt diese Affinität zur Kraft der bildenden Kunst macht die Szene zu einem in Lyon herangezoomten Bühnenzauberwürfel. Mit dem goldumfluteten Liebestod als Höhepunkt!

Retrofreies Musikereignis

Dass das in beiden Fällen auch zu einem frischen, retrofreien Musikereignis von Rang wurde, ist in erster Linie Hartmut Haenchen zu verdanken. Und zwar nicht, weil der Dresdner mit dieser Elektra aus ihren Anfängen vertraut ist. Sondern weil er in den letzten Jahrzehnten zu einer Strauss- und vor allem Wagner-Koryphäe wurde, die lange im Ausland mehr galt, als im eigenen Lande.

Er schaffte es natürlich, auch mitten in Frankreich mit dem heimischen französischen Orchester die Musik der beiden Richards lodern zu lassen, mit Präzision und Sängergenauigkeit zu bestechen und letztlich auch den Geist der Produktionen musikalisch gleichsam neu zu beschwören.

Elena Pankratova führt souverän das Elektra-Ensemble an. Neben Ann Petersen (Isolde) und Daniel Kirch, der als eher belcantischer Tristan bis an seine Grenzen ging, war die Brangäne von Eve-Maud Hubeaux die vokale Überraschung des Abends.

Solche Retro-Experimente sind sicher nicht die Zukunft der Oper – aber sie erinnern an die Maßstäbe, an denen man messen kann. (Joachim Lange, 28.3.2017)