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Ingeborg Rapoport im Juli 2009.

Foto:REUTERS/Thomas Peter

Wien – Ein wahres Mediengewitter kam vor zwei Jahren über Ingeborg Rapoport, als sie im Alter von 102 Jahren als älteste Deutsche zur Doktorin der Medizin promovierte. Zwar hatte sie ihr Studium bereits 1938 an der Universität Hamburg abgeschlossen, aber sie durfte als sogenannte Halbjüdin die bereits fertiggestellte Dissertation im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr verteidigen.

Ingeborg Rapoport hatte viele Heimaten. 1912 wurde sie als Ingeborg Syllm in der damaligen deutschen Kolonie Kamerun geboren. Ihre Familie kehrte jedoch bald nach ihrer Geburt nach Hamburg zurück, wo die Tochter in der späten Weimarer Republik das Medizinstudium begann. Dass sie es überhaupt so weit voranbringen konnte, war couragierten Lehrenden zu verdanken, die sie unterstützten. 1938 flüchtete sie in die Vereinigten Staaten, wo sie das Studium de facto wiederholen musste und es schließlich am Women's Medical College in Philadelphia abschloss.

Beziehung zu Österreich

Wie sie in ihrer Autobiografie "Meine ersten drei Leben" betont, trug ihre Arbeit bei bedeutenden US-Spezialisten der Kinderheilkunde an einer Reihe von Kliniken wissenschaftlich und hochschuldidaktisch zu ihrer späteren bemerkenswerten Karriere im Fach Neonatologie bei. Am Children's Hospital in Cincinnati begann ihre Beziehung zu Österreich. Dort begegnete sie dem Biochemiker Mitja Rapoport, der aus Wien ins amerikanische Exil gefunden hatte und den sie nach einigen Jahren heiratete.

Rapoport, ein enger Freund des Schriftstellers Jura Soyfer, machte durch seine Forschung die Konservierung von Blutprodukten möglich, was die alliierte Kriegsführung unterstützte und zum Überleben vieler amerikanischer Soldaten beitrug. Zwar erhielt er für diesen wissenschaftlichen Durchbruch, der das moderne Blutspendewesen ermöglichte, nach dem Krieg eine hohe Auszeichnung des amerikanischen Präsidenten, gleichzeitig aber fanden sich Ingeborg und er auf der Liste unerwünschter "unamerikanischer" Personen, die sich durch kommunistische Aktivitäten verdächtig gemacht hatten. Unter anderem unter dem Vorwurf, einen Anschlag auf die Wasserversorgung von Cincinnati geplant zu haben, eine Variante der mittelalterlichen Anschuldigungen gegen jüdische "Brunnenvergifter", wurde eine Anklage vorbereitet, der die inzwischen fünfköpfige Familie durch Flucht nach Europa entrann.

Neubeginn in Ostberlin

Zwar war man an der Wiener Medizinischen Fakultät sehr an Rapoport interessiert, aber der amerikanische Druck zwang das Forscherehepaar, an der Ostberliner Charité neu zu beginnen. Während Mitja dort ein international bedeutendes biochemisches Forschungszentrum aufbaute, erbrachte Ingeborg Pionierleistungen mit der Einrichtung des Fachs Neonatologie, die für Europa richtungsweisend war.

Nach dem Fall der Berliner Mauer war es wieder einmal an der Zeit, den Pass auszutauschen. Ingeborg Rapoport erlebte die Wende mit gemischten Gefühlen. Zwar kritisierte sie die Einschränkungen politischer Freiheiten in der DDR; sie war jedoch – und blieb bis zum Schluss – der Meinung, dass der Sozialismus die besseren Voraussetzungen für eine dem Menschen dienende Medizin bot. Wenn, so betonte sie immer wieder, die Beziehung von Arzt und Patient vom Geld geprägt ist, sei der humanistische Auftrag der Heilkunde in Gefahr.

Bis in ihr sehr hohes Alter verfolgte sie die Entwicklungen in Gesundheitspolitik und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten und in Europa, wobei sie sich auf ein breites Netzwerk von Freunden sowie Kollegen in aller Welt stützte. Besuchte man sie in den letzten Jahren in ihrem kleinen Häuschen in Berlin-Pankow, in einem Viertel, wo nach dem Krieg viele Exilheimkehrer ein neues Zuhause fanden, waren die Gespräche immer von einer Mischung aus Angst und Hoffnung geprägt, insbesondere auch was die politische Richtung der Vereinigten Staaten anbelangte.

Späte Promotion

Ihre späte Promotion verstand Ingeborg Rapoport auch politisch. Die Universität Hamburg hatte der prominenten ehemaligen Studentin ein Ehrendoktorat angeboten, das sie aber prompt zurückwies und stattdessen den Abschluss des Promotionsverfahrens forderte. Zur Verteidigung der Dissertation über Diphterie fand sich die Hamburger Prüfungskommission einschließlich Dekan in ihrem Berliner Wohnzimmer ein. Das weltweite Medienecho erinnerte auch an offene Fragen der deutschen Geschichte.

Österreich war sie nicht nur dauerhaft verbunden, weil es die Heimat ihres Mannes war. Regelmäßig traf sie sich mit ihrer Freundin, der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky; die österreichische Politik verfolgte sie mit besonderem Interesse. Der Sieg Alexander Van der Bellens war eine der wenigen politischen Nachrichten ganz zum Schluss ihres langen Lebens, die sie freute.

Ingeborg Rapoport starb am 23. März in Berlin. (Walter Grünzweig, 28.3.2017)