Dreißig Tonnen Nahrung passieren im Laufe eines Lebens den menschlichen Darm.

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Paul Enck / Thomas Frieling / Michael Schemann: "Darm an Hirn! – Der geheime Dialog unserer beiden Nervensysteme und sein Einfluss auf unser Leben."
€ 20,90 / 176 Seiten, Herder 2017.

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Der Mensch hat zwei Gehirne, eines im Kopf und eines im Bauch. Dieses "Bauchhirn", in der Biologie als enterisches Nervensystem bekannt, zieht sich entlang des ganzen Verdauungsapparates und agiert eigenständig, es kann seine Reaktionen auf Reize unabhängig vom zentralen Nervensystem koordinieren.

Die drei Autoren des Buches "Darm an Hirn" sind Experten im Bereich Neurogastroenterologie, das "Bauchhirn" ist ihr Thema. Sie fordern von der Medizin, diesem Gebiet weit mehr Beachtung zu schenken – mit allen Mitteln, wie es scheint. So ist gar die Rede von Selbstversuchen mit verschluckten Sonden und Fingern im Po.

Doch von vorne: Als die Autoren vor vielen Jahren damit begannen, sich ihrem Fachgebiet zu widmen, waren Verdauung und Darm noch weit größere Tabuthemen, als das heute der Fall ist. "Pupsforschung" würden sie betreiben, hieß es von spöttischen Kollegen. Wie groß der Einfluss des Darms auf Abläufe im menschlichen Körper ist, war damals noch weit weniger bekannt. Mit "Darm an Hirn" wollen die Autoren auch noch die letzten Unwissenden erreichen.

Dreißig Tonnen Nahrung

Los geht es im Buch mit der Geschichte der Erforschung des Nervensystems im Darm und der Verdauung. Es folgen Informationen über Aufbau, die genauen Abläufe und die Funktionen besagter Körperregionen. Der Leser erfährt, dass dreißig Tonnen Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit im Laufe eines Lebens einen menschlichen Darm passieren. Essen, so die Autoren, sei die Verbindung des Menschen zur Welt. Das "Bauchhirn" sitzt dort, wo die Außenwelt (Nahrung) auf das Innere (Stoffwechsel) trifft.

Besonders anschaulich geht es im Kapitel "Kneten und Mischen" zu, in dem die Funktion des Dickdarms im Mittelpunkt steht. Hier wird erklärt, wie Bakterien Energie aus der Nahrung holen und sie schlussendlich aus dem Körper befördert wird. 24 bis 72 Stunden kann es übrigens dauern, bis Nahrung den gesamten Darm durchlaufen hat und die Reste als Kot entleert werden. Im Verwerten von Nahrung steckt ein Uhrwerk an Präzision, heißt es im Buch. Seine zentrale Rolle werde den Menschen erst klar, wenn es nicht mehr einwandfrei funktioniert.

Gestörte Verdauung

Und auch das wird im Buch thematisiert. Nervenkrank geht nämlich nicht nur im Kopf, sondern klarerweise auch im "Bauchhirn". Erklärt werden Reflux, Reizmagen und -darm, Verstopfung und wie es zu diesen Erkrankungen kommt. Vor allem letzterem Thema sind zahlreiche Abschnitte im Buch gewidmet. Dort erfährt man etwa, dass auch eine Stuhlfrequenz von nur einmal pro Woche normal sein kann, obwohl, so die Autoren, es manche Menschen schon in Panik versetzt, wenn sie nur alle drei Tage ein großes Geschäft erledigen können. Interessant auch folgendes kurioses Phänomen, von dem vermutlich noch die wenigsten gehört haben: Beim sogenannten paradoxen Durchfall leiden Betroffene gleichzeitig an Durchfall und Verstopfung.

Zwischen den einzelnen Kapiteln, die teilweise etwas unstrukturiert aufeinander folgen, gibt es graue Infokästen, die grundlegende Begriffe und Funktionen des menschlichen Körpers, mitunter sehr wissenschaftlich, erläutern.

Doch bald darauf folgt auch wieder leichtere Kost, etwa dort, wo ganz harmlose und alltägliche Funktionen der menschlichen Verdauung beschrieben werden. Man erfährt, was im Bauch los ist, wenn der Magen knurrt, wenn wir zu fett essen oder unser Essen unzureichend kauen. Erklärt wird, was im Körper passiert, wenn man fastet, was hungrig macht und wann und warum man sich satt fühlt. Auch den Flatulenzen wird ein ausführliches Kapitel gewidmet.

Übergeordnete Instanz

Besonders spannend wird es dort, wo Hirn und "Bauchhirn" zusammenarbeiten. Denn obwohl die Verdauung weitgehend unabhängig arbeitet, gibt es doch Anknüpfungspunkte. Etwa bei Erbrechen oder Hunger wird das Gehirn als übergeordnete Instanz eingeschaltet – auch wie das konkret abläuft, wird im Buch erklärt.

Am Ende kommen die Mediziner zu dem Schluss: Obwohl es viele Daten über Funktion und Aufbau der Darmnerven gibt, ergeben sie noch kein klares Bild. "Sie ähneln einem unfertigen Puzzle." Die drei Experten glauben, etwa wenn es um Erkrankungen geht, könnte die Erforschung des "Bauchhirns" in vielen Fällen des Rätsels Lösung sein.

Der eine oder andere Aha-Moment ist garantiert. Empfehlenswerte Lektüre für alle interessierten und anwendungsorientierten Verdauer. (Bernadette Redl, 3.4.2017)