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"Ich halte Legalisierung für sinnvoller als ein Verbot, und unter einer Stigmatisierung leiden doch die schwächsten Glieder in der Kette", sagt Bossong.

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Bossong ist in ihrem Buch mit einem distanzierten Ich präsent. Auch die eigene Lust ist ein Thema.

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Sportschuhe und Tanga, das ist die Uniform auf der untersten Stufe des Straßenstrichs auf der Berliner Kurfürstenstraße. Die rumänischen Mädchen tragen das. Sie wollen ihre Reize zeigen, aber nicht auf Stöckelschuhen auf Männer warten. Eine Mischung aus Pragmatismus und Verzweiflung zeigt sich da, wo die Freier das Angebot vom Auto aus begutachten, während es bei Tageslicht zum Teil schon zum Teil surreal wirkt, wie hier unvereinbare Welten nebeneinander bestehen.

Denn dies ist zum Teil ein bürgerlicher Bezirk, die Firma X-Filme, an der Tom Tykwer beteiligt ist, hat in der Kurfürstenstraße ihr Büro, und das beliebte Café Einstein hat hier sein Stammhaus, ein Etablissement mit Wiener Flair. Wer von der U-Bahn nach Westen geht, kommt unweigerlich auch an den jungen Frauen vorbei, die sich feilbieten. Nicht alle arbeiten schon untertags. Bina und Angelina zum Beispiel kommen erst um fünf. Und sie arbeiten maximal bis um ein Uhr nachts. Und sie tragen hohe Schuhe. Die beiden Ungarinnen verstehen ihr Geschäft besser als ihre rumänischen Kolleginnen, sie wissen, worauf es ankommt: "Aussehen und Ausstrahlung."

Die Ausstrahlung muss man sich aber erst einmal erarbeiten, das geben sie auch selbst zu, in einem Gespräch, das man in einer solchen Offenheit noch selten gelesen hat. Die Autorin Nora Bossong hat Bina und Angelina getroffen, in einem Stundenhotel, wie es sich gehört. Sie hat auch bezahlt, aber eben nicht für Sex, wie es die Männer tun, sondern für Aufklärung. "Bina und Angelina sind zum einen sehr kluge Frauen, die auch ihre Würde irgendwie bewahrt hatten", erzählt Nora Bossong bei einem Gespräch in Berlin.

Reden über Rotlicht

Wir haben uns getroffen, um über ihr Buch Rotlicht zu sprechen, eine Recherche über käuflichen Sex, die in einer Tabledance-Bar in Frankfurt beginnt und in einem Wohnungsbordell in Charlottenburg endet, nicht weit von der Bar der Berliner Schaubühne am Kurfürstendamm, die Nora Bossong für das Treffen vorgeschlagen hat. Sie hat eine Menge erlebt auf ihren Wegen durch das Rotlicht, aber Bina und Angelina haben sie besonders beschäftigt.

"Ich habe mich beim Zuhören so hilflos gefühlt, und zwar gerade, weil diese beiden Frauen nicht vollkommen ausgeliefert sind. Sie arbeiten nicht für einen Zuhälter und achten auf die Abgrenzung zu den Frauen, die es für noch viel weniger machen. Gleichzeitig sprachen sie über die Männer so, dass ich das nur als Negierung ihrer eigenen Bedürfnisse sehen konnte. Bina hat ja auch einen Partner. Der ist manchmal eifersüchtig, und das beunruhigt sie dann ziemlich. Mit ihrer Arbeit kommt sie zurecht, aber sie fängt an zu rotieren, wenn ihr Mann damit nicht zurechtkommt. Diese Aufgabe der eigenen Position zugunsten der Männer – da wurde der Boden unter meinen Füßen weggezogen."

Den Boden unter den Füßen kann man tatsächlich leicht verlieren, wenn man sich auf den Weg durch das Rotlicht macht. Zumal, wenn man das aus einer Position heraus tut, wie sie Nora Bossong einnimmt: eine junge Schriftstellerin aus Berlin, die sich vor zwei Jahren in ihrem Roman 36,9 Grad mit dem italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci beschäftigt hat und die sich irgendwann die Frage gestellt hat, warum das Sexgeschäft nach wie vor vollkommen einseitig ist: Männer kaufen sich, wonach ihnen der Sinn steht. Bei Frauen ist das immer noch eine Ausnahme.

Mehr darüber wissen

Nora Bossong wurde irgendwann auf der Straße nach einem Stundenhotel gefragt, kannte keines, blieb aber an der Frage hängen. Denn diese schien etwas Unzeitgemäßes zu haben, jedenfalls ihren Vorstellungen nach. Bei einem Stundenhotel dachte sie an Plüsch und den Blauen Engel, der Film Pretty Woman kann einem einfallen, und sie wusste auch, dass es in Wien das Hotel Orient gab, das so ziemlich genau allen Klischees von einem Stundenhotel entsprach.

Sie wollte aber mehr darüber wissen, zumal sich bei Gesprächen über das Rotlicht, wenn sie das Thema in ihrem Freundeskreis auf das Tapet brachte, ein Effekt einstellte, der sie provozierte: "Die Deutungshoheit darüber, was Lust und Begehren ist, verteidigten die Männer hartnäckig. Ich bekam sehr stereotype Antworten. Also bin ich losgezogen, um mir selber ein Bild zu machen."

Ganz so einfach war die Sache natürlich nicht, denn man kann sich als Frau nicht so ohne weiteres in der Welt des Rotlichts bewegen. Der Einsatz wäre dann schnell der eigene Körper, und Nora Bossong wollte verständlicherweise nicht so weit gehen wie Séverine Sérizy, die Hauptfigur aus dem Film Belle du jour von Luis Buñuel, eine von Catherine Deneuve gespielte Dame der Pariser Bourgeoisie, die aus Neugierde und Ennui in einem Bordell zu arbeiten beginnt.

Nora Bossong ist in Rotlicht mit einem distanzierten Ich präsent. Die eigene Lust ist ein Thema, es gibt aber Grenzen der Diskretion. "Es war mir wichtig, dass ich mit dem Ich im Buch keine Pornografie betreibe. Erotik hat immer noch einen Schleier. Pornografie ist blank und nackt. Aber es wäre unmöglich gewesen, über diese Welten so zu schreiben, als wäre ich eine unsichtbare Beobachterin. Ich bin eine Frau, ich reflektiere das intellektuell, und jeder hat seinen eigenen Zugang zu diesem Thema. Diese Wirkung konnte ich nur mit einem Ich abhandeln. Dazu kommen Begleiter, die in jedem Kapitel wechseln und die den männlichen Blick repräsentieren. Im Abgleich mit diesen männlichen Positionen finde ich meine Perspektive als eine Frau, die an diese Orte geht."

Allgemeine Kondompflicht

Der Ort, an dem das Buch Rotlicht der weiblichen Lust am nächsten kommt, ist in einem Tantramassagestudio. Was dort geschieht, gilt vor dem Gesetz nicht als käuflicher Sex, auch wenn die Masseusen nackt sind und in der Regel ein Orgasmus das Ziel der Massage ist. In Deutschland wird Mitte des Jahres ein neues Prostituiertenschutzgesetz in Kraft treten, das schon während der Entstehung heftig umstritten war, weil es auch Dinge zu regulieren versucht, die sich schwer kontrollieren lassen (eine allgemeine Kondompflicht etwa), aber auch, weil es nach Meinung mancher Lobbyisten der Sexarbeiterinnen eher ein Prostituiertenverwaltungsgesetz als ein Schutzgesetz geworden ist.

Die Tantramasseurin Michaela in Nora Bossongs Buch beklagt sich weniger über das neue Gesetz als über die Vergnügungssteuer, die mit dem Rotlicht nicht direkt zu tun hat, bei der sich aber auch zeigt, dass der Staat sehr wohl Unterschiede macht, was legitimes und anrüchiges Vergnügen betrifft.

Von der Tantramassage ist es dann ein denkbar weiter Weg bis in ein Sexkino, das in seinen hinteren Bereichen auch eine Gang- bang-Area hat. Oder später in ein Laufhaus in Hamburg, wo Nora Bossong Zeugin einer unglaublichen Basarmentalität wird: "Dass es einem Freier noch Spaß machen kann, eine Frau von 50 auf 40 Euro herunterzuhandeln, ist mir einfach unvorstellbar, weil damit ja auch die Würde noch einmal niedriger gedrückt wird. Da zeigt sich doch eine grundlegende Nichtwertschätzung von Frauen – und auch von Sexualität. Ich sehe keinen absoluten Zusammenhang von Geld und Wertschätzung, aber doch einen tendenziellen. Das hat wohl doch auch etwas mit einer deutschen Mentalität zu tun. Es gibt so etwas wie eine Discountisierung. In den Laufhäusern geht es zu wie bei Aldi: Hauptsache, billiger. Dass einem die Lust nicht vergeht in dem Moment, in dem man den Preis einer anderen Person drückt, das scheint mir sehr vielsagend zu sein."

Anrecht auf Bordelle

Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang auch die Reaktionen, die Nora Bossong bisher mit ihrem Buch über die "Ressource Sex" ausgelöst hat. Sie hat jedenfalls rasch, so erzählt sie, alle ihre im Netz auffindbaren E-Mail- Accounts gelöscht, sonst hätte sie wohl zu viele Anwürfe über sich ergehen lassen müssen von Männern, die meinen, sie hätten ein Anrecht auf Bordelle: "Das wird dann immer so formuliert, dass sie gar keine andere Wahl haben, dass sie notgedrungen zu Prostituierten gehen müssen. Dass man auch Verantwortung für seine Handlungen hat, kommt da gar nicht vor, geschweige denn, dass auf der anderen Seite eine reale Notsituation einer anderen Person vorhanden sein könnte. Da geht es nur um ein absolut uneinschränkbares Anrecht darauf, dass ein Körper zur Verfügung steht. Das finde ich wirklich unglaublich. Man hat kein Anrecht auf einen anderen Körper."

Die reale Notsituation bekommt in einem Kapitel von Rotlicht, in dem Bossong sich mit einem früheren Straßenstrich in Dortmund beschäftigt, eine europäische Dimension. Die Stadtverwaltung hat dort viel versucht, unter anderem mit sogenannten Verrichtungsboxen (ein Wort, das alle Dilemmata einer sozialarbeiterlichen Annäherung an die Prostitution geradezu schreiend zum Ausdruck bringt), aber an ein Faktum kommt man von Deutschland aus eben nicht heran: dass es im bulgarischen Plovdiv eine Siedlung gibt, in der "slumähnliche Bedingungen" herrschen. "Prostitution ist immer verzahnt mit anderen Problemen, und solange es ein solches Wohlstandsgefälle in Europa gibt, wird man Armutsprostitution und Sexarbeitsverschickung nicht loswerden."

Das Rotlicht ist also offensichtlich auch eine Chiffre für einen größeren Zusammenhang. Das Begehren ist ja nie isoliert, es verbindet sich mit anderen Wünschen, es erzählt von Vorgängen in der Gesellschaft. Ich frage Nora Bossong ein bisschen direkter, als es mir eigentlich seriös erscheint: Lässt sich aus ihren Beobachtungen darüber etwas ableiten? Über das, wie sich das Klima in Deutschland oder allgemeiner in den liberalen, demokratischen Gesellschaften gerade verändert?

Sie antwortet abwägend, wie zumeist, und kommt dann doch ziemlich klar auf einen Punkt. "Ich sehe zwei Entwicklungen, die gerade parallel verlaufen. Es gibt junge Feministinnen – und übrigens auch Feministen! -, die neue Wege entdecken, die eher den Dialog suchen, als die Gegensätze zu betonen, und die auch die Lust und die Freude mehr ins Zentrum stellen und nicht die Verbitterung. Das baut aber auch auf früheren Erkämpfungen auf. Und dann gibt es offensichtlich ein Rollback, eine Rückentwicklung. Autokratische, patriarchale Männer stehen wieder hoch im Kurs. In dem Moment, in dem Privilegien verschwinden, wird die Aggressivität größer. Ein hypothetischer Freier, der im Job, und vielleicht auch in der Familie, nicht mehr den Ton angeben kann, der kann das im Laufhaus für 30 Euro kompensieren. Geld ist für Männer anders einsetzbar als für Frauen. Welche Form von Macht wir mit Geld kaufen können, das ist ungleich verteilt."

Verbieten oder erlauben?

Seit Deutschland unter der rot-grünen Koalition zu Beginn der Nullerjahre ein sehr liberales Prostitutionsgesetz bekommen hat (in Österreich ist die Situation vergleichbar), kommt es immer wieder zu "Prostitutionsdebatten", in denen es zumeist um eine zu einfache Alternative geht: Verbieten oder erlauben? Nora Bossong hat durch ihre Feldforschung nun eine besonders gute Position, sich zu dieser Frage zu äußern. Zumal sie zu Beginn ganz eindeutig selbst eine liberale Haltung vertrat. Sie wollte anfänglich vor allem wissen: Warum gibt es so etwas nicht auch für Frauen? Sie war neugierig, ob es vielleicht "würdevolle" Orte geben könnte, "die eine Schönheit haben" und an denen auch Frauen diese unverbindliche Lust genießen könnten, die vielen Männern so selbstverständlich ist.

Inzwischen sieht sie die Sache doch recht deutlich anders. "Prinzipiell halte ich Legalisierung für sinnvoller als ein Verbot, und unter einer Stigmatisierung leiden ja doch vor allem die schwächsten Glieder in der Kette. Aber das, was ich erlebt habe, hat mich von dieser Grundüberzeugung ein wenig abgebracht. Eine pure Legalisierung halte ich nicht mehr für sinnvoll. Denn nach Prinzipien der Marktwirtschaft wird sich das nicht regeln. Die unsichtbare Hand des Marktes schützt die Frauen nicht, sondern greift ihnen unter den Rock. Legalisierung hat immer auch etwas mit Legitimierung zu tun. Diese Verknüpfung habe ich vorher ziemlich unterschätzt. Das Prostituiertenschutzgesetz kriminalisiert nicht die Frauen und die Handlung, sondern eine bestimmte Form von Unfreiwilligkeit. Ich tendiere nun doch zu einem strikteren Verbot, aber dann würde das alles in einem Bereich weiterspielen, in dem der Staat überhaupt keine Zugriffsmöglichkeiten mehr hätte. Also, ich bin da einfach ambivalent. Aber juristisch sollte es noch ein deutlicheres Zeichen geben, das auf Freier und Zuhälter gemünzt ist. Dass es einfach nicht selbstverständlich ist."

Das Buch Rotlicht schließt mit einer interessanten Überlegung, die das Thema Sex und Geld und (männliche) Macht noch einmal auf einen größeren Zusammenhang hin öffnet. Nora Bossong erzählt davon, wie sie einen Flug kauft, weil sie jemand sehen möchte, und zwar so spontan, wie das mit einer Onlinebuchung heute möglich ist. Diesen Akt des Konsums reflektiert sie, sie erinnert sich daran, wie sie früher mit ihrem Vater eine Reise gebucht hat, und ihr wird klar, auch wenn sie das dann nur noch andeutet, dass die Prostitution auch so etwas wie ein Symptom ist für eine Gesellschaft, die Menschen mit Wünschen füttert und mit Ersatzhandlungen abspeist.

Da schimmert dann noch einmal ein wenig Kritische Theorie durch in einem Buch, das für Prostitutionsdebatten im simplen Pro-und-Contra-Modus vermutlich zu komplex ist, das aber auf jeden Fall mehr als deutlich macht, dass der ganze kommerzielle Sexkomplex keine Naturtatsache ist: Das "älteste Gewerbe der Welt", wie es oft entschuldigend genannt wird, ist ein Business von Männern für Männer, und die Frauen sind die Ware. "Mir wurde oft gesagt, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt", fasst Nora Bossong ihre Eindrücke zusammen. "Ich meine aber, dass in unserer Gesellschaft viel stärker das Angebot die Nachfrage bestimmt. Wir müssen ständig als Kunden zur Verfügung stehen und das Ganze am Laufen halten. Dass das Rotlicht eine reine Männerwelt ist, hat nicht mit nestbauenden Frauen oder mit unmöglicher Monogamie zu tun, sondern damit, dass die Männer als Kunden entdeckt wurden und dass dieses Bedürfnis am Leben gehalten wird. Frauen dagegen werden mit teuren Haarshampoos schon genug ausgenommen." (Bert Rebhandl, Album, 1.4.2017)