Mascha Dabic am Donaukanal in Wien: "Nora fragt sich, ob das viele Lesen auf Kosten ihres Erlebens geht. Am Ende kommt sie aber drauf, dass ohne diese Möglichkeit der Realitätsflucht die Realität oft nicht zu ertragen ist."

Foto: Jorghi Poll / Edition Atelier

Mascha Dabić, "Reibungsverluste. Roman". € 18,- / 152 Seiten. Edition Atelier, Wien 2017

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STANDARD: Sie arbeiten als Übersetzerin und Dolmetscherin, unter anderem im Bereich der Psychotherapie. Die Protagonistin Ihres Romans "Reibungsverluste", Nora, ist ebenfalls Dolmetscherin für Psychotherapiesitzungen. Wie autobiografisch ist der Roman?

Dabić: Die Geschichten als solche – auch jene von Nora – sind jedenfalls alle erfunden. Ich könnte nicht sagen, dass sie so wie ich wäre, auch wenn sie vielleicht die eine oder andere Ähnlichkeit mit mir hat. Was sehr wohl autobiografisch ist, ist meine Wahrnehmung dieses Arbeitsbereichs und der allgemeine Tonfall.

STANDARD: Hatten Sie angesichts Ihrer eigenen Arbeit Bedenken, den Roman zu veröffentlichen?

Dabić: Das hat mich tatsächlich lange beschäftigt. Obwohl, wie gesagt, alle Menschen und Geschichten erfunden sind, habe ich lange gezögert, bevor ich es Leuten in meinem Arbeitsumfeld gezeigt habe, weil ich schon mit kritischen Reaktionen gerechnet habe. Ich war dann erleichtert, als ich gemerkt habe, dass sie nicht nur nichts dagegen haben, sondern das Buch total unterstützen.

STANDARD: Sie sind ja halbe Russin und halbe Serbin. War für Sie klar, dass Sie den Roman auf Deutsch schreiben?

Dabić: Ja. Deutsch ist meine erste Sprache, meine Bildungssprache. Insofern hat sich die Frage der Sprache für mich gar nicht gestellt.

STANDARD: Im Text kommen immer wieder russische Worte und Ausdrücke vor. Welchen Zweck verfolgen Sie mit diesen russischen Einsprengseln?

Dabić: Ich wollte einfach zeigen, wie Übersetzen oder Dolmetschen meiner Meinung nach funktioniert, wie man dabei denkt. Wenn man sich wissenschaftlich mit dem Übersetzen und Dolmetschen befasst, kann man ja meistens nur mit dem arbeiten, was da ist, also mit den Dingen, die sprachlich vor einem liegen. Das, was man aber nicht zur Verfügung hat, ist eigentlich der Punkt, an dem sich der Prozess wirklich abspielt, diese Blackbox des Kopfes. Ich finde, dass Literatur dafür am besten geeignet ist, diesen Denkprozess in Ansätzen auch aufzuzeigen. Ich wollte also diese Blackbox etwas offenlegen.

STANDARD: Sie sprechen immer von Übersetzen und Dolmetschen. Auch im Buch selbst wird auf diese Unterscheidung mehrmals hingewiesen. Was davon ist Ihnen näher, was fällt Ihnen schwerer?

Dabić: Genau, es gibt diese Unterscheidung, Dolmetschen ist das Mündliche und Übersetzen das Schriftliche. Ich selbst habe beides studiert, und ich konnte mich schon an der Universität nicht entscheiden. Bis jetzt mache ich immer noch beides. Und ich brauche auch beides. Ich schätze die kommunikative Komponente des Dolmetschens sehr, es ist lebendiger, die Zeit vergeht schneller. Auch wenn ein Thema gerade nicht so interessant ist, der Kopf ist trotzdem immer gefordert, in jedem Moment zu funktionieren. Beim Übersetzen wiederum schätze ich den Rückzug, die Genauigkeit und den Umstand, dass man es ganz allein macht. Ich finde, beide Aufgaben ergänzen sich gut. Sie erfordern aber auch ganz unterschiedliche Aspekte. Das Übersetzen erfordert mehr Sorgfalt. Wenn ich viel dolmetsche, neige ich manchmal dazu, ein bisschen schlampig zu werden. Und beim Übersetzen geht es eben nicht darum, möglichst schnell zu sein, sondern möglichst genau.

STANDARD: Wann haben Sie begonnen, an dem Roman zu arbeiten? Hatte das auch mit der Aktualität des Flüchtlingsthemas in den vergangenen zwei Jahren zu tun?

Dabić: Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr ganz genau, wann ich begonnen habe, an dem Buch zu schreiben – vielleicht vor drei Jahren. Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren als Dolmetscherin in der Psychotherapie. Es ist für mich also ein kontinuierliches, langfristig wichtiges Thema. Und jetzt ist natürlich alles noch viel größer und dringlicher geworden. Das hat meine eigene Beschäftigung damit aber nicht wirklich verändert. Dass das Buch genau jetzt erschienen ist, ist ein Zufall. Ich hätte es auch schon viel früher schreiben wollen oder vielleicht auch sollen. Das habe ich aber nicht gemacht.

STANDARD: Würden Sie Ihr Buch als politisches Buch bezeichnen?

Dabić: Nein, es war nicht meine Absicht, ein politisches Buch zu schreiben. Es war mir wichtig, wirklich Menschen zu zeigen, Menschen zu erfinden und nicht Abziehbilder. Ich wollte nicht, dass es auf der einen Seite die Tschetschenen gibt und auf der anderen Seite die Österreicher. Hier die Dolmetscher, da die Therapeuten und dort die Flüchtlinge. Ich wollte verschiedene Biografien einfach nebeneinander stehen lassen. Dass es diesen Arbeitsbereich überhaupt gibt, ist ja ein Produkt verschiedener Politiken, die absichtlich oder unabsichtlich diese Situationen produzieren. Dass es insofern schon auch ein politisches Buch geworden ist, ist aber ein Nebenprodukt.

STANDARD: Ein spannendes Thema in Ihrem Roman ist das Verhältnis der Protagonistin zu Literatur. Sie liest sehr viel, Literatur hat einen großen Einfluss auf sie. Doch dann erlegt sie sich plötzlich ein Leseverbot auf. Was hat es damit auf sich?

Dabić: Für mich stellt sich die Frage, ob Lesen nicht manchmal auch eine Art Realitätsflucht ist, ein Schutzschild gegen das Leben. Ob Er-Lesen nicht auch in Konkurrenz steht zum Er-Leben. Und Nora fragt sich, ob das viele Lesen auf Kosten ihres Erlebens geht. Am Ende kommt sie aber drauf, dass ohne diese Möglichkeit der Realitätsflucht die Realität oft nicht zu ertragen ist. Manchmal muss man sich in diese geschriebenen, erfundenen Realitäten zurückziehen. Das ist nicht nur eine Frage der Bildung, sondern auch ein emotionales Bedürfnis.

STANDARD: Sie lesen selbst auch so viel wie Ihre Protagonistin?

Dabić: Phasenweise – wobei ich sagen muss, dass mein Leseverhalten früher näher an dem dran war, wie man meiner Meinung nach mit Büchern umgehen sollte. Ich kann nicht mehr so gut eintauchen, ich habe weniger Geduld und lege mehr Bücher weg. Lesen steht, gerade wenn man mit Sprache arbeitet, auch immer ein bisschen in Konkurrenz zu Sprachproduktion oder Lesen für die Arbeit.

STANDARD: Apropos Sprachproduktion: "Reibungsverluste" ist Ihr Debüt. Haben Sie schon eine Idee für einen neuen Text?

Dabić: Ehrlich gesagt: nein. Ich bin und bleibe auch Übersetzerin und Dolmetscherin. Ich habe das Gefühl, diese Geschichte musste ich einfach schreiben. Aber darüber hinaus weiß ich kein Thema, das mich so fesseln würde, dass ich noch einmal einen Roman schreiben könnte. Aber es wäre schön, und ich hoffe darauf. Aber es kann gut sein, dass dieses Buch mein erstes und letztes ist. Ich sehe auch keinen Druck, dass unbedingt etwas kommen muss. Ich finde, man darf auch einfach nur ein Buch geschrieben haben – und dann trotzdem so weiterleben wie bisher. Ich bin gespannt, wie mir das gelingt. (Hanna Biller, Album, 2.4.2017)