Juri Andruchowytsch, "Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik" € 24,70 / 416 Seiten Insel-Verlag, Berlin 2016

Foto: Insel

Das Abc dieser Städte ist so individuell wie lehrreich und unterhaltsam. Was Antwerpen, Czernowitz, Detroit, Graz, Moskau, Riga, Uschhorod oder Venedig gemeinsam haben, ist die Bekanntschaft, die sie irgendwann in den vergangenen bald 50 Jahren mit Juri Andruchowytsch gemacht haben. Dass man dabei mehr über den Stadtbesucher erfährt als über die jeweilige Stadt selbst, tut der Sache keinen Abbruch. Andruchowytsch ist kein Flaneur im klassischen Sinn, vielmehr ein neugieriger Erkunder, ein Sammler von Erfahrungen, und diese sind unterschiedlich genug, um für literarische Abwechslung zu sorgen.

Zum Beispiel München 1992, für den Autor die erste Begegnung mit dem Westen, die "erste Stadt des Okzidents in meinem Leben". Damals ist er 32 und erlebt als Stipendiat den "Schock des Reichtums", schon die Fahrt im ICE kommt ihm wie eine Zeitreise vor. Es kommt zu herrlichen Missverständnissen: In München hört er zum ersten Mal das Wort Fasching und denkt sich: Natürlich, München war ja die "Hauptstadt der Bewegung". Erst später erfährt er, "dass 'Fasching' und 'Faschismus' nicht dasselbe bedeuten".

Ein anderes Missverständnis erlebt er später in Graz, als er mit dem Flugzeug in Thalerhof landet und sich wundert, wie ein Flughafen so heißen kann: In der Ukraine ist "Thalerhof" als Konzentrationslager des Ersten Weltkriegs bekannt, in dem 1914/15 mehr als dreitausend Menschen zu Tode kamen, ukrainische Zivilisten, die als "Russenfreunde" hierhin deportiert wurden – nur dass man in Graz nichts davon weiß ...

"Gefühl, zu Hause zu sein"

Oder Novi Sad, "eine kurze, aber starke Erinnerung" – stark, weil von hochprozentigem Raki umwölkt, der dem Autor an der philosophischen Fakultät kredenzt wird. Aber eigentlich ist es das "Gefühl, zu Hause zu sein": Die Wojwodina erinnert ihn an das heimatliche Galizien, auch hier würde noch ein altösterreichischer Schatten wachen. In Wirklichkeit ist Novi Sad eine Stadt der zerstörten Brücken. Als Andruchowytsch im Herbst 2002 erstmals hierherkommt, gibt es keinen Übergang über die Donau, eine Folge des unseligen Jugoslawienkriegs. 2014, bei seinem zweiten Besuch, wird noch immer vom Krieg erzählt. Zur selben Zeit ist "Krieg" in der Ukraine bereits das häufigste Wort.

Nicht nur die Städte liegen offenbar eng beisammen, auch die Zeiten, durch die man in beiden Richtungen reisen kann. An das Alphabet muss man sich dabei nicht halten, man kann in diesem kurzweiligen Buch ganz nach Belieben nachschlagen: Von Odessa an einem nasskalten Novembertag 1994 ist es nur ein Sprung nach Prag, das der Autor im Juli 1968 als den "fröhlichsten Ort auf Erden" erlebte. Andruchowytsch ist ein begeisterter und begeisternder Landvermesser, vor allem ein "poetischer", wie er in der FAZ einmal bezeichnet wurde. Nicht zufällig heißt sein Lexikon im Untertitel Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik.

Ein Geopoet, der es versteht, Geografie in Poesie zu verwandeln, ist Juri Andruchowytsch gewiss. Die Idee, seine Stadterfahrungen in ein topografisches Lexikon zu fassen, hat er schon länger mit sich herumgetragen. Bei der Übersetzung ins Deutsche musste allerdings die Abfolge der Städte verändert werden, weil das ukrainische Alphabet eine andere Reihenfolge und mehr Buchstaben hat. Doch die deutsche Übersetzung gibt ohnehin nur eine Auswahl aus den ursprünglich 111 Stadtporträts wieder – 39 sind es in diesem Band, mit über 400 Seiten dennoch eine ansehnliche Sammlung. Übrigens, für den Buchstaben X hat Andruchowytsch eine geniale Lösung gefunden. Da er nicht eigens nach China oder nach Xanthen reisen wollte, hat er sich eingedenk des X der radioaktiven Strahlen für einen Ort entschieden, der 1986 von der Landkarte verschwand. X steht für Tschernobyl, und der Zufall wollte es, dass ein Künstler für das bekannteste Café von X einst ein Glasfenster geschaffen hatte, das den letzten Tag von Pompeji darstellte – ein seltsamer "Katastrophismus", zumal die Bürger von Tschernobyl genauso wenig wie jene in der Antike ahnen konnten, was ihnen bevorstand.

We love Centralia

Ähnlich erlebte Andruchowytsch die Stadt Centralia in den USA, die am Kohlebergbau zugrunde ging und aufgegeben werden musste, als die Kohle unter der Erde zu brennen anfing. Das war 1962, seither konnte der Brand unter dem Stadtgebiet, der nahezu die gesamte Region unbewohnbar gemacht hat, nicht gelöscht werden. Als Andruchowytsch die Geisterstadt 2001 besuchte, entdeckte er Spuren jener Arbeitsmigranten, die einst mit großen Hoffnungen hierhergekommen waren, um nach dem schwarzen Gold zu schürfen: die Lemken, Angehörige eines russinischen Volksstammes, der einst in den Ostkarpaten siedelte. Auch aus Centralia sind sie heute verschwunden, auf einem Blechkranz aber haben sie eine letzte Botschaft hinterlassen: "WE LOVE CENTRALIA". "Hätte jetzt jemand Road Trippin' gespielt" – den Song einer kalifornischen Rockband -, "es wäre um mich geschehen gewesen", schreibt Andruchowytsch. "Ich wäre dort geblieben."

Auch Czernowitz, wohin der Autor seit 1983 immer wieder kommt, ist eine Totenstadt, in der gerne zu bleiben wäre. Einst wurden hier fünf Sprachen gesprochen, eine Stadt der Dichter und der jüdischen Kultur war dieser östlichste Außenposten der Monarchie. Aber das war einmal, jetzt ist die Stadt bloß noch "ein Gebietszentrum in der heutigen Ukraine". So grau, so nichtssagend wirklich? Mitnichten, setzt Andruchowytsch entgegen. Das Leben habe immer Raum für Utopie, und "Czernowitz ist einer jener Orte, wo die Utopie nicht nervt, sondern froh macht." Sätze wie diese kann man nur als schön bezeichnen. Einmal heißt es auch: "In Lemberg gibt es keine Donau, aber ihre Nähe ist manchmal sehr deutlich zu spüren." Lemberg ist die "Lieblingsstadt" des Autors. (Gerhard Zeillinger, Album, 4.4.2017)