Zum Thema Flüchtlingspolitik des Bundes sind Mödlhammer (links) und Häupl einig: "Man hat den Kommunen nur Probleme bereitet."

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STANDARD: Zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung leben in Städten, das Land leidet unter Landflucht. Vor allem Frauen verlassen das Land – warum?

Michael Häupl: Generell gehen Menschen dorthin, wo sie glauben, dass sich ihre Hoffnungen am ehesten erfüllen – sei es, was Berufswünsche, sei es, was Lebensentwürfe betrifft. Ich bin ja eigentlich auch ein Landflüchtling, ich bin in einem 500-Einwohner-Dorf in Niederösterreich geboren. Ich bin dann mit dem Studium in Wien pickengeblieben. Andere ziehen sehr bewusst dorthin, wo sie meinen, ihre Pläne verwirklichen zu können.

STANDARD: Aus Studien kennt man Gründe: Bildungschancen ...

Helmut Mödlhammer: ... Arbeitsplätze ...

Häupl: ... auch Lebensqualität, leistbarer Wohnraum nicht nur für Wohlhabendere. Nach Wien pendeln Tag für Tag 265.000 Menschen. Das bedeutet auch, dass das Umland von großen Städten wie Wien mit hoher Gravitationskraft erhalten bleibt. Hier geht es um Gesellschaftsstrukturen, das sind Kultur- und Ortsverschönerungsvereine, freiwillige Feuerwehren ...

STANDARD: Wien hat ein Problem mit seinem Speckgürtel: tägliche Staus, riesige Einkaufszentren ... Sollte man die Stadtplanung nicht auf das Umland ausdehnen?

Häupl: Es gibt die Planungsgemeinschaft Ost bereits. Natürlich kann man darüber reden, ob man diese noch verstärkt, ihr auch mehr Entscheidungskompetenz zuweist. Mir gefällt es auch nicht besonders gut, dass südlich von Wien die Betriebsansiedlungen funktionieren, während auf der Wiener Stadtseite wogende Ährenfelder das Bild prägen. Bei aller tiefen Liebe zu den Wiener Bauern: Das scheint mir in der Form verkehrt zu laufen. Auf der anderen Seite muss man auch sehen: Solange die derzeitige Struktur der Kommunalsteuer so ist, wie sie ist, sind wir alle Konkurrenten.

STANDARD: Ist das nicht kontraproduktiv?

Häupl: Ja und nein. Einerseits schon, weil man viel mehr Synergieeffekte erzielen könnte, aber andererseits werde ich ganz sicher nicht eine der letzten direkten Einnahmequellen der Gemeinden infrage stellen.

Mödlhammer: Es gibt ja nur die Grundsteuer und die Kommunalsteuer, da sind die Gestaltungsspielräume sehr begrenzt. Wir haben jetzt bei den Finanzausgleichsverhandlungen erstmals festgelegt, dass Zusammenarbeit gefördert wird. Bei den Bedarfszuweisungen, den Ausgleichszahlungen für die strukturschwächeren Gemeinden, wird ein Teil für Zusammenarbeit reserviert. Das ist ein entscheidender Punkt, wir wollen keinen Fleckerlteppich, bei dem jeder Ort um "seinen" Betrieb kämpft. Anreize sind uns sehr wichtig, aber das darf auch nicht dazu führen, dass sich die eine Gemeinde zurücklehnt und sagt, ich nehme das Geld und brauche keinen Betrieb, und die Nachbargemeinde hat dann den Schmutz, den Lärm und den Verkehr.

STANDARD: Sie beide betonen oft, die Kommunen hätten durch den EU-Beitritt an Bedeutung gewonnen – wozu braucht es dann noch Bundesländer und Landeshauptleute?

Häupl: Du meine Güte. Ich bin durchaus ein traditionsbewusster Mensch! Ich kenne diese Diskussionen, und sie haben zum Teil auch ihre Berechtigung. Ich war immer für ein Mehr an Europa, allerdings auch für ein Mehr an Region. Die EU soll sich bitte nicht um jeden Schmarrn kümmern, sondern besser um so wesentliche Dinge wie eine Harmonisierung der Wirtschaftssteuern. Die Regionen stellen die gesamte Diversität dieses Kontinents dar, wie es auch Jeremy Rifkin so schön beschrieben hat. Für mich ist weniger die Frage, wie notwendig Länder sind, sondern eher, wozu es eine Bundesregierung braucht.

Mödlhammer: Aus Umfragen wissen wir: Die Bürger sehen sich als Allererstes als Gemeindebürger. Dann aber als Landesbürger, an dritter Stelle erst als Österreicher und an vierter als Europäer. Historisch muss man auch sagen: Die Republik ist von den Bundesländern gegründet worden – und es ist auch gut so. Ein Vorarlberger ist von der Mentalität her ganz anders als ein Burgenländer.

STANDARD: Die Bürgermeisterinnenquote in Österreich beträgt magere 7,5 Prozent. Warum ist Kommunalpolitik immer noch Männersache?

Mödlhammer: Das stimmt ja nicht ganz. Gemeindepolitik an sich ist schon auch Frauensache. In den Gemeinderäten haben wir 30 Prozent Frauen. Ein Problem haben wir auf der ersten Ebene ...

STANDARD: ... also gläserne Decke?

Mödlhammer: Ja, der Sprung von der zweiten Ebene auf die erste ist das Problem. Wir überlegen ständig, was wir da noch tun könnten. Als ich angefangen habe, gab es 39 Bürgermeisterinnen, jetzt haben wir knapp 160 – wenn das so weitergeht, brauchen wir noch 20 Jahre für den Gleichstand. Aber die Frauen zu finden, die sich diese Funktion zutrauen und sich das auch antun wollen, ist sehr schwierig. Auch die Vereinbarkeit mit Beruf und Familie ist bei Frauen ein großes Thema. Die Bürgermeisterinnen sind meist in einem Alter, in dem die Kinder schon erwachsen sind und in dem man vom Einkommen her auch nicht darauf angewiesen ist, denn Bürgermeistergehälter sind zumeist sehr niedrig.

STANDARD: Das soll Frauen abschrecken? Kaum zu glauben, wo sie nachweislich das Gros unbezahlter Arbeit leisten ...

Mödlhammer: ... das ist auch nicht der Hauptgrund. Eher die Verantwortung. Bürgermeister ist ein heikler Job. Man ist nicht immun, ganz auf sich allein gestellt, und man kann auch bei Fehlentscheidungen vor Gericht landen – das nimmt immer mehr zu. Man hat über so viele Dinge zu entscheiden, bei denen man dann die Letztverantwortung trägt – etwa als Baubehörde, in allen Fragen der Sicherheit, bei Veranstaltungen. Da gibt es viele Probleme, von der Schaumparty bis zum Skirennen. Bürgermeister schleppen einen riesigen Rucksack an Haftungen und rechtlichen Verantwortlichkeiten, die es in keiner anderen politischen Funktion gibt.

Häupl: Als Wiener Bürgermeister kann ich die Frage nach den Frauen in der Politik mit einiger Gelassenheit sehen, als Städtebundpräsident nicht. Wir haben ein ganz ähnlich gelagertes Problem in den Städten. Der Schritt vom Stadtsenat zum Bürgermeister ist auch hier ein Problem.

STANDARD: Sie könnten die Quote heben, indem Sie selbst in Wien eine Nachfolgerin auf den Schild heben.

Häupl: Sie meinen, wie mein Freund Erwin Pröll das gemacht hat? Nun, wir haben nicht die Tradition des Erbhofbauern, sondern die einer demokratischen Partei.

STANDARD: Gemeinden haben lange keine Flüchtlinge aufgenommen, große Städte, wie etwa Wien, haben die Hauptlast geschultert. Hat die Flüchtlingskrise Städte und Gemeinden entzweit?

Mödlhammer: Im Gegenteil, wir haben uns gut ergänzt. Kleine Gemeinden haben ja nicht aus Jux und Tollerei Flüchtlinge nicht aufgenommen. Erst als es gelang, kleinere Unterbringungseinheiten zu schaffen, waren wir erfolgreich. Innerhalb eines Jahres haben wir die Unterbringungsquote der Gemeinden von einem Drittel auf zwei Drittel angehoben. Dass sich Gemeinden mit 500 Einwohnern gegen ein Haus mit 150 bis 200 Flüchtlingen gewehrt haben, verstehe ich – so ist Integration nicht möglich. Das geht nur in überschaubaren Verhältnissen.

Häupl: Ich sehe das ähnlich. Ich habe die Gemeinden oft in Schutz genommen, weil sie großteils auch im Stich gelassen wurden. Wenn man in einer 2000-Einwohner-Gemeinde 200 Menschen unterbringen will, hat man ein Thema. So geht das einfach nicht. Es war schrecklich schwierig, im Innenministerium durchzusetzen, dass man hier zu einer vernünftigen Lösung kommt. Die gutwilligsten Bürgermeister waren bereit zu tun, was sie können. Aber man hat ihnen nur Probleme bereitet.

STANDARD: Meinen Sie die Quote oder das Durchgriffsrecht?

Häupl: Das Durchgriffsrecht konnte man sowieso nicht ernst nehmen.

Mödlhammer: Das war so unnötig wie ein Kropf.

Häupl: Es war lange tabu, über eine vernünftige Aufteilung in kleinen Quartieren zu reden. Zwei Drittel aller Flüchtlinge, die in Wien untergebracht sind, leben in Privatquartieren und nicht in einer städtischen Einrichtung. Insgesamt denke ich: Wir verkaufen unsere Integrationsleistungen viel zu wenig selbstbewusst, und wir gehen umgekehrt zu wenig selbstkritisch mit Fehlern um, die wir gemacht haben.

STANDARD: Beschäftigt hat die Gemeinden auch die Finanzkrise: Warum wollten Sie nach dem Aufkommen der Spekulationsverluste einiger Gemeinden keine Ausweitung der Prüfkompetenzen für den Rechnungshof?

Mödlhammer: Ich war immer für eine, nicht für vier Prüfebenen gleichzeitig. Wenn sich vier Institutionen in einer Kleingemeinde die Klinke in die Hand geben wegen jeden Fassls Bier, finde ich das lächerlich.

STANDARD: Sie beide haben eine ähnlich lange politische Vita. Was hat Sie enttäuscht, worauf sind Sie stolz?

Mödlhammer: Uns ist nicht gelungen, eine vernünftige Aufgabenreform in dieser Republik zu realisieren. Das war immer mein Traum: Wir brauchen nicht 15 Stellen, die für Kinderbetreuung zuständig sind. Da wäre unglaublich viel Geld und Effizienz drin. Das Positive ist, dass diese Gemeinden europaweit Vorbild sind, auch was das Durchstehen der Wirtschaftskrise betrifft. Wir erwirtschaften Überschüsse, bauen Schulden ab. Und die Gemeinden haben das höchste politische Vertrauen in diesem Staat, vor allem bei jungen Menschen. Das ist meine größte Freude.

Häupl: Stolz bin ich darauf, wie Städte und Gemeinden den EU-Beitritt gemeistert haben. Das Subsidiaritätsprinzip im Acquis communautaire der Union war ausschließlich die Arbeit und das Verdienst der europäischen Kommunalverbände. Die zweite große Herausforderung war der Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008. Das hat uns in den Euroländern besonders getroffen, weil wir durch die Maastricht-Kriterien mit einer Wirtschaftsordnung zu leben hatten, die in ganz anderen Zeiten erarbeitet worden war. Da stand die Stabilität öffentlicher Haushalte im Vordergrund – nicht zu Unrecht. Heute ist aber die Investitionskraft der öffentlichen Haushalte entscheidend. Das nachhaltige Investieren in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur muss man machen dürfen, weil es das Dreifache an privaten Investitionen nach sich zieht. Das bringt Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt in Ordnung. Mich enttäuscht, dass wir hier nicht weiter sind in der Debatte darüber.

STANDARD: Enttäuscht haben Sie wohl zuletzt auch Ihre Parteifreunde mit ihrer Kritik an Ihnen, die sogar in eine Rücktrittsforderung mündete und in die Aufforderung, Ihre Nachfolge zu regeln – oder etwa nicht?

Häupl: Erstens bin ich nicht wehleidig. Und zweitens geht es ja um die Sache und nicht um Befindlichkeiten. Wenn wir alle danach handeln, können wir unseren Job so erledigen, wie das die Menschen zu Recht von uns erwarten. (Petra Stuiber, 1.4.2017)