Gegenwelt mit Badeplatz: Lukas Valenta Rinners "Die Liebhaberin" spielt (auch) unter Nudisten.

Foto: Nabis Filmgroup

Graz – Ein Jubiläum kann man mit Altbewährtem feiern. Oder man nimmt es zum Anlass, einen Blick in die Kristallkugel zu werfen. Die Grazer Diagonale, deren 20. Ausgabe am Sonntag zu Ende ging, hatte von beiden Varianten etwas zu bieten. Selbstbewusst präsentierte sie sich als etablierter Ort der Begegnung mit vielfältigem Filmschaffen – Keine Angst, Hansi Langs 80er-Jahre-Popappell an alle Hasenfüße da draußen, wurde von den beiden Festivalleitern Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber schon zur Eröffnungsrede zugespielt.

Sucht man in der fünftägigen Leistungsschau nach einem Trend, dann waren es die Arbeiten junger Filmemacher, die mit frischer Sensibilität und Lust an neuen Erzählweisen den stärksten Nachhall erzeugten. Einer davon, Lukas Valenta Rinner, wurde für seine lakonische Gesellschaftsparabel Die Liebhaberin (Los Decentes) durchaus überraschend mit dem Preis für den besten Spielfilm ausgezeichnet.

Dass der Salzburger Regisseur in Spanien und Argentinien ausgebildet wurde, hat auch in seinem Film Spuren hinterlassen. Unbeirrt, umstandslos und ohne viel Worte begleitet er die Haushaltshilfe Belén an ihren neuen Arbeitsplatz in einem schicken Villenviertel. Sie putzt und kocht – und beobachtet die emsige Leere der anderen.

Befreite Körper

Doch so passiv und scheu, wie Belén auf den ersten Blick wirkt, ist sie gar nicht. Als sie einen Nackten in der Nachbarschaft ins Auto steigen sieht, ist ihre Neugierde geweckt. Die stille Angestellte wird zum Mitglied dieser Nudistengemeinde. Deren Kampf um die Befreiung des Körpers durch Liebe ist der Welt des Wohlstands zwar entgegengesetzt, aber ähnlich reglementiert.

Die Liebhaberin wird so zu einer stoisch erzählten Studie der Entgrenzung. Rinners Blick darauf hat eine Buñuel'sche Note, mit gutem Rhythmusgefühl gleicht er die Parallelwelten ab und treibt sie schließlich in die Eskalation.

Doch die neue Generation hat viele Stimmen. Monja Arts Siebzehn ist eine Teenagerstudie unter Mädchen auf dem Land, die mit spleenigen Beobachtungen überrascht. Adrian Goiginger rekonstruiert in seinem bereits auf der Berlinale prämierten Film Die beste aller Welten die eigene Kindheit mit seiner drogenabhängigen Mutter – ein sehr stimmig inszenierter Film über wechselnde Gefühlslagen.

roman kasseroller

Auch Jury Rechinsky hat nach seinem Dokumentarfilm Sickfuckpeople mit Ugly ein kompromissloses Spielfilmdebüt vorgelegt. Der Ukrainer verknüpft Erzählungen über zwei Paare als eine einzige gewaltvolle Momentaufnahme. Nach einem Autounfall liegt die Tochter (Angela Gregovic) in einem ukrainischen Krankenhaus, während die Mutter (Maria Hofstätter) in Wien bei einem Fest über ihre Alzheimererkrankung hinwegtäuscht.

Rechinsky erzählt aber hier wie dort keine Leidensgeschichte, sondern hält mit jeder Einstellung der Welt ihr Elend entgegen. Ugly ist ein Film, auf dessen Radikalität man sich einlassen muss, belohnt wird man mit ungeheuerlichen Bildern wie jenem, in dem ein apokalyptischer Sturm über ein Getreidefeld hereinbricht.

In guter Form präsentierte sich auch der Dokumentarfilm (Der Standard berichtete), Ivette Löcker erhielt für ihr so eindringliches wie ambivalentes Elternporträt Was uns bindet den Hauptpreis. Die beste Dankesrede gab am Samstagabend Katrina Daschner, die mit dem Preis für Innovatives Kino ausgezeichnet wurde: Sie habe ihren Film auch sehr gern, "weil so viele Busen und Pferde vorkommen".

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Wundersame Fetischwelt

Tatsächlich ist Pferdebusen ein Film, der durch seine Detailansichten tierischer wie menschlicher Körperteile, das Abtasten von Oberflächen und Pferdetrab auf der Tonebene sinnlich zu irritieren vermag. Daschner betont das Bühnenhafte der Situation, führt in eine wundersame Fetischwelt mit nackten Hintern auf Ledersatteln, verklebten Gesichtern, einer Vagina dentata – und setzt das alles mit großer Sorgfalt ins Bild.

Die Rücken- und Kristallarrangements von Antoinette Zwirchmayr sah man auf der Diagonale am öftesten, denn sie entstammten ihrem nach dem Philosophen Jean-Luc Nancy benannten mysteriösen Trailer. In Venus Delta zeigt sie eine Bachidylle, in der fast alles stillsteht, bis sich plötzlich ein Haar im Wind kräuselt oder Bälle sanft davontreiben. Die Schönheit des Kinos lässt sich auf kleinste Einheiten zurückschrauben.

Lukas Marxt und Marcel Odenbach umkreisen in ihrem Landschaftsfilm Fishing is not done on Tuesdays ein auf Betonstelzen errichtetes Haus an der Küste Ghanas und seine nähere Umgebung: Dschungel, Strand, diverse Farben und Blickachsen bilden eine verstörende Ton-Bild-Collage, deren einzelne Teile sich erst am Ende – wie bei einem Festival – zu einem Ganzen fügen. (Dominik Kamalzadeh, Michael Pekler, 2.4.2017)