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Bei der diesjährigen Präsidentenwahl in Frankreich kann man nur dann von einer Sensation sprechen, wenn FN-Chefin Marine Le Pen nicht ins Finale einzieht.

Foto: REUTERS/Stephane Mahe

Es ist die Gretchenfrage der französischen Präsidentschaftswahl: Ist Marine Le Pen in der Lage, nicht nur den ersten Wahlgang Ende April, sondern auch den zweiten Anfang Mai zu gewinnen? Sicher ist, dass ihr Einzug in den Élysée-Palast ganz Europa auf den Kopf stellen würde – und zwar stärker als der Brexit. Denn wenn Frankreich, das europäische Kernland par excellence, Gründungsmitglied aller europäischer Institutionen, ausschert, wie das Le Pen will, wenn also das deutsch-französische Gegensatzpaar nicht mehr funktioniert – dann wäre die EU in ihrer heutigen Form zweifellos an ihrem Ende angelangt.

So weit ist es noch nicht. Gut möglich ist zwar, dass Marine Le Pen den ersten Wahlgang für sich entscheidet: Umfragen räumen ihr rund 25 Prozent der Stimmen ein, etwa gleich viel wie dem Mittekandidaten Emmanuel Macron und etwa acht Prozentpunkte mehr als dem Konservativen François Fillon. Die Demoskopen sagen es so: Es sei nicht sicher, dass Le Pen den ersten Wahlgang gewinnt, aber es sei sicher, dass sie in die Stichwahl vorstößt.

Doch ist das wirklich sicher? Wenn Fillon in diesem unvorhersehbaren Wahlkampf zum Schluss wieder Terrain gutmachen sollte oder der "Linke" Jean-Luc Mélenchon – ebenso europaskeptisch wie Le Pen – weiter zulegt, ist sogar denkbar, dass Le Pen schon am 23. April aus dem Rennen scheidet. Zugegeben, die Möglichkeit scheint gering. Das zeigt allein schon, wie sehr sich die Zeiten in Frankreich geändert haben: 2002 war es eine Sensation, als Jean-Marie Le Pen den Sozialisten Lionel Jospin ausschaltete und gegen Jacques Chirac in die Stichwahl vorstieß; 15 Jahre später könnte man nur dann von einer Sensation sprechen, wenn Marine Le Pen nicht ins Finale vordränge.

Möglicherweise bereits am Höhepunkt

Le Pen scheint also für die Stichwahl gesetzt. Das beantwortet aber noch nicht die zentrale Frage, ob sie dort gewinnen kann. Im Jahr 2002 war Vater Jean-Marie mit 16,9 Prozent in die Stichwahl vorgedrungen, hatte dort aber nur ein Prozent mehr – 17,8 – erhalten. Der Front National hat zwar eine treue Stammwählerschaft, und diese dürfte sich seit 2002 auf rund 25 Prozent vergrößert haben; mangels Allianzen lässt sie sich aber kaum vergrößern, sodass Marine Le Pen im zweiten Wahlgang im Prinzip nicht viel mehr Wähler anziehen kann.

Die Le-Pen-Strategen haben gegen diese Sicht zwei Einwände. Erstens, so sagen sie, zeige die Trump-Wahl, dass in den westlichen Demokratien kein Stein auf dem anderen bleibe. "Tout est possible", alles sei möglich in dem terrorversehrten, krisengeplagten und derzeit so instabilen Frankreich.

Bis zu 30 Prozent

Zweitens zeigt das Le-Pen-Barometer seit Jahren steil nach oben. 2012 kam Marine Le Pen auf knapp 18 Prozent. Bei der Europawahl von 2014 erhielt der Front National 24,8 Prozent, bei den Departementswahlen von 2015 dann 25,2 Prozent und bei der Regionalwahl Ende desselben Jahres 27,7 Prozent. Die Dynamik ist unbestreitbar. Bis zu 30 Prozent sind im ersten Präsidentschaftswahlgang für Marine Le Pen wohl drin, wenn man die bei ihr immer noch zahlreichen verdeckten Wähler einbezieht. Doch genügt das, um im zweiten Wahlgang auf 50 Prozent zu kommen? Le Pen bräuchte dazu einen Riesensprung von vielleicht acht auf etwa 17 Millionen Stimmen.

Die Frontisten hoffen, dass die Stimmen der ausgeschiedenen Kandidaten diesmal viel zahlreicher als 2002 (unter Jean-Marie Le Pen) oder 2012 auf die FN-Kandidatin übergehen. Schuld seien die Gegenkandidaten. Wenn sich Emmanuel Macron für die Stichwahl qualifiziere, gäben viele strammkonservative Fillon-Anhänger lieber Le Pen die Stimme als Macron; wenn dagegen Fillon weiterkomme, zögen viele Mélenchon-Wähler das ähnliche Wirtschaftsprogramm Le Pens vor, um den "ultraliberalen" Euro- und Globalisierungsfreund Fillon zu verhindern.

Streitthema EU

Gerade auf der Europaebene lauert allerdings ein gewichtiges Anti-Le-Pen-Argument, von dem im Wahlkampf erstaunlich wenig die Rede ist. Genauer gesagt: Wenn Le Pen verlieren dürfte, dann ausgerechnet wegen der angeschlagenen EU.

Le Pens Wahlversprechen Nummer eins ist die Rückkehr zur "nationalen Souveränität", also die Abkehr von Brüssel. Das sei ihr Trumpfass, glaubt die FN-Kandidatin. Hatten die Franzosen 2005 nicht mit 54,7 Prozent gegen die EU-Verfassung gestimmt?

Das ist aber zum Teil ein Scheinargument. Es stimmt, die Franzosen sind nicht gut auf die EU zu sprechen. Aber die Nein-Mehrheit von 2005 war gegen die Vertiefung und Erweiterung der EU gerichtet, nicht gegen deren Existenz. "L'Europe" gilt in französischen Augen auch als französische Idee und Konstruktion. Laut Umfragen wollen 72 Prozent der Franzosen in der Union und der Eurozone bleiben.

Eigentlicher Le-Pen-Nachteil

Ein Euroausstieg würde zudem gerade die FN-Wähler – Geringverdiener, Kleinsparer – via Inflation und Rezession am härtesten treffen, wie es die Argentinien-Krise vorgemacht hat. Das vermeintliche Trumpfass sticht in Wahrheit gegen Marine Le Pen.

Alles in allem lautet der Tenor in Paris, Le Pen werde die aktuelle Präsidentenwahl verlieren. Allerdings sehe sie darin nur ein Vorprogramm für die Wahl 2022. Ihr Kalkül sei, dass in der nächsten Amtszeit mit Frankreich alles nur noch schlimmer werde – sei es unter dem Hollande-Verschnitt Macron oder dem jetzt schon gelähmten Fillon. (Stefan Brändle aus Paris, 3.4.2017)