Sag mir, woher du kommst, und ich sage dir, wie viel du schreist: Ganz so simpel ist es nicht, aber es scheint nationale Tendenzen beim Schreiverhalten von Babys zu geben.

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In Deutschland und Dänemark schreien und quengeln Babys einer Studie zufolge im Durchschnitt weniger als zum Beispiel in Großbritannien und Italien. Zu diesem Schluss kommen der Psychologe Dieter Wolke und sein Team von der Universität Warwick nach der Analyse von Daten zum Schreiverhalten von fast 8.700 Kindern in neun Industrieländern.

Über die Ursachen könne man nur spekulieren, schreiben die Forscher im Fachblatt "The Journal of Pediatrics". Ein möglicher Grund seien aber gesellschaftlich oder ökonomisch bedingte Unterschiede in der Fürsorge und der Betreuung von Neugeborenen. Die neun für die Metaanalyse berücksichtigten Länder waren Deutschland, Großbritannien, Kanada, Australien, die USA, Italien, die Niederlande, Dänemark und Japan. Österreich kommt nicht in der Studie vor.

Stresslevel der Mutter

Der Stresslevel der Mütter könne aufgrund unterschiedlicher Mutterschutzregelungen und sozialer Unterstützung variieren, erläutern die Forscher. Das könne Auswirkungen auf das Schreiverhalten der Kinder haben. Denkbar seien prinzipiell auch genetische Faktoren – schließlich sei auch bei den Erwachsenen aus verschiedenen Ländern bekannt, dass die einen im Mittel eher zurückhaltend und die anderen eher extrovertiert sind.

Auch die Art der Fütterung könne Einfluss haben: Flaschenkinder wachen den Forschern zufolge nachts zum Beispiel weniger oft auf als gestillte Babys, die Gesamt-Schreizeit vermindere sich dadurch in der 24-Stunden-Bilanz.

Viel Körperkontakt wirkt positiv

Hilfreich dürften jedenfalls körperlicher Kontakt sowie ein ruhiges Elternverhalten sein, bei dem nicht sofort eingegriffen, sondern zunächst kurz gewartet werde, ob der Säugling sich allein wieder beruhige, erklärt Wolke. "Eltern denken oft, dass sie etwas falsch machen oder dass mit dem Baby etwas nicht in Ordnung ist, wenn sie es nicht gleich beruhigen können." Dabei seien 40 Prozent des Schreiverhaltens in den ersten drei Lebensmonaten nicht beruhigbar und völlig normal.

Art des Schreiens sagt nichts aus

Für die Psyche der Eltern sei es wichtig zu wissen, wie viel ein normales Baby schreit. Doch selbst in vielen Geburtsvorbereitungskursen werde darauf leider kaum eingegangen, sagt Wolke. Dass man, wie viele Elternratgeber behaupten, am Ton des Schreiens zwischen Hunger, Schmerz und Langeweile unterscheiden könne, habe keinerlei wissenschaftliche Basis. "Man kann nur die Intensität unterscheiden."

Zwischen 30 Minuten und fünf Stunden

Die Studie beruht auf den Daten von 28 früheren Untersuchungen, für die über das Schreiverhalten von Babys in Fünf-Minuten-Intervallen Tagebuch geführt worden war. Der Abgleich der Ergebnisse ergab, dass Babys in den ersten zwei Lebenswochen im Mittel etwa zwei Stunden am Tag schreien oder wimmern. Sie steigern sich zu einem Hoch von zwei Stunden 15 Minuten täglich im Alter von sechs Wochen. Mit zwölf Wochen seien es nur noch eine Stunde und zehn Minuten durchschnittlich.

"Eltern sind oft nicht darauf vorbereitet, wie viel Säuglinge in den ersten drei Monaten schreien oder wimmern", sagt Wolke. Die individuellen Unterschiede seien dabei enorm. In den Untersuchungen seien Babys mit nur einer halben Stunde Schreien und Wimmern am Tag erfasst, aber auch solche mit insgesamt fünf Stunden.

Auch Koliken von Land zu Land unterschiedlich häufig

Der Analyse zufolge lärmen im Mittel Babys in Großbritannien, Italien, Kanada und den Niederlanden mehr als die in Dänemark, Deutschland und Japan. In Deutschland sind es den berücksichtigten Daten zufolge bei einem ein bis zwei Wochen alten Baby im Mittel 69 Minuten täglich und bei einem drei bis vier Wochen alten Kind 81 Minuten. Für kanadische Babys wurde für das Alter von drei bis vier Wochen ein Mittelwert von 150 Minuten erfasst, ebenso für die Niederlande.

Auffällig sei auch eine geringere Kolik-Rate bei drei bis vier Wochen alten Kindern in Deutschland (sieben Prozent) und Dänemark (sechs Prozent) verglichen mit Kanada (34 Prozent), Großbritannien (28 Prozent) und Italien (21 Prozent). Wie bei den Daten generell könne hier eine unterschiedliche Wahrnehmung der Mütter für die in den Tagebüchern erfassten Zeiten eine Rolle gespielt haben, schränken die Forscher die Aussagekraft der Ergebnisse ein.

Varianzen sind normal

Die Analyse belege aufs Neue, wie groß die individuellen Unterschiede beim Schreien und Wimmern zwischen einzelnen Babys seien – und dass die Varianzen etwas ganz Normales seien, erklärt Wolke. Es sei sinnvoll, bei den Ländern mit besonders kurzen Schreizeiten genauer zu untersuchen, ob dies am elterlichen Verhalten oder an anderen Faktoren wie Erfahrungen während der Schwangerschaft oder genetischen Voraussetzungen liege. (APA, red, 4.4.2017)