Vitalität mit reichlich Gefühl für Details: Andrés Orozco-Estrada, kolumbianischer Dirigent, mit großer Wien-Erfahrung.

Foto: Werner Kmetitsch

Wien – Ja, er kennt sich hier aus, nach sechs Jahren als herausragender Chefdirigent des Tonkünstlerorchester Niederösterreich und nach etlichen Dirigaten der Wiener Symphoniker und der Wiener Philharmoniker. Wenn Andrés Orozco-Estrada also mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks für drei Abende im Großen Musikvereinssaal gastiert, dann kann man das wohl als ein Heimspiel bezeichnen.

Mit Rachmaninows viertem Klavierkonzert wurde mit einem selten gespielten, recht heterogenen Werk eröffnet: Kitschnaher Cinemascope-Pathos wechselt mit jazziger Unruhe, russische Melancholie bandelt mit Blues an. Denis Kozhukhin, ein ehemaliger Schüler von Dmitri Bashkirow und Kirill Gerstein, interpretierte das in den USA entstandene Werk auf einem überharten Steinway mit Präzision und überschaubarer Originalität; die solistische Einleitung des langsamen Satzes gelang dem Russen am persönlichsten.

Mit ganzen zwei Zugaben (Gluck und Bach) demonstrierte Kozhukhin dann seine Fähigkeit, die Melodiestimme dynamisch deutlich von den Begleitstimmen abzuheben.

Mit Mahlers Fünfter legte Orozco-Estrada im Jeunesse-Konzert dann ein weiteres Zeugnis seiner enormen Fähigkeiten vor: Der 39-Jährige ist ein Koordinator und Motivator ersten Ranges. Wie Simon Rattle scheint er umso besser zu werden, je mehr Einsätze er zu geben hat – und bei diesem Werk gibt es definitiv genug. Mithilfe des erstklassigen, sich vor Einsatzfreude schier zerreißenden HR-Sinfonieorchesters wurde die Symphonie zu einem vitalen, grellen Dauerspektakel, bei dem aber die lyrischen Stellen fast mehr berührten: die schlenkernden Walzeridyllen im Scherzo etwa oder das a-Moll-Trio im Kopfsatz.

Das HR-Sinfonieorchester musizierte grundsätzlich mit einer sportlichen Agilität und agierte wie ein rennserientauglicher BMW; vielleicht, dass Orozco-Estrada den Turbo etwas zu oft zündete. (Es wäre interessant, wie das Werk zusammen mit den Rolls-Royce-haften Wiener Philharmonikern geklungen hätte, die die rastlose Impulskraft des kolumbianischen Wahlwieners mit ihrer Zurückhaltung und Extremismusscheu wohl etwas abgefedert hätten.)

Sogar im Adagietto war Orozco-Estrada noch jederzeit Kontrolleur und Animateur, buchstabierte alles vor, gab – überspitzt formuliert – für jedes Pling der Harfe einen superdeutlichen Einsatz, statt die Dinge einfach einmal fließen zu lassen. Wundervoll akkurat die Fugati des Finalsatzes. Lauter Jubel für eine beeindruckende Leistung im Musikverein. (Stefan Ender, 5.4.2017)