Chuzpe 1977 backstage: Christian "Chromosom" Brandl, Ali "Krawalli" Griemann, Rudi "Rüpel" Barcal und Robert "Räudig" Wolf.

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Mit Masel Chuzpe gegründet: Robert Wolf 1976 beim Augartenspitz in der Wiener Leopoldstadt.

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Irgendwann hörte er im Fernsehen einen heimischen Künstler über dessen Aufwachsen im zweiten Wiener Gemeindebezirk reden, dabei erwähnte dieser "den einarmigen Parkwächter im Augarten", vor dem sich alle Kinder gefürchtet hätten. Robert Wolf, der sich als Musiker "Räudig" nannte und Gründer sowie Sänger und Gitarrist der legendären Wiener Punkband Chuzpe war, muss lachen, als er davon erzählt. Denn "der Einarmige" war sein Adoptivvater, und dass sich alle Kinder vor ihm fürchteten, das muss er leider bestätigen. In den Rasen eines öffentlichen Gartens stieg damals niemand ungestraft hinein.

In jener Ecke des Augartens, in der heute das Filmarchiv Austria untergebracht ist, waren früher Wohnungen der Bundesgartenbediensteten. Eine 60-Jährige, die "als Sesselfrau im Burggarten arbeitete", wo sie den Flanierenden Stühle zuwies, und deren kriegsversehrter Ehemann hatten Robert Wolf nach dessen Geburt 1953 in Pflege genommen, seine leibliche Mutter war alleinerziehend und überfordert. Die Pflegeeltern adoptierten ihn schließlich sogar mit Einverständnis der Mutter, mit der er aber in Kontakt blieb. Jeden Sommer verbrachte er die Ferien bei ihr in Kärnten, wohin sie gezogen war.

Robert lebte mit seinen Adoptiveltern in einer bescheidenen Zimmer-Küche-Wohnung, er schlief bei der Mutter im Ehebett, der Stiefvater auf einer Eisencouch in der Küche. Er hatte ein liebevolles, wenn auch distanziertes Verhältnis zu ihnen. Die obligatorischen Watschn vom strengen Stiefvater? "Ja, du meine Güte!", sagt er, der Stiefvater hatte selbst "mehr Schläge als Essen gekriegt".

Ohne rechten Arm

Er war schon im Ersten Weltkrieg gewesen, dann Holzknecht, bevor er auch in den Zweiten Weltkrieg musste. Aus diesem kam er ohne rechten Arm zurück. "Das Essen bei der Adoptivmutter", erinnert sich Wolf, "war sehr gut, ihre zehn Speisen hat sie gut variiert." Aber weil er ein schmächtiges Bürschchen war, empfahl der Arzt zusätzlich jeden Abend ein dunkles Hubertusbräu mit Eidotter und Zucker. "Hat nicht schlecht geschmeckt!", sagt Wolf. Bis er in die Pubertät kam und die Hormone in ihm das Ei und den Zucker ablehnten. Das Bier schmeckte ihm weiterhin.

An den Sonntagen ging die Familie ins Wirtshaus, meistens in die Reblaus auf der Oberen Augartenstraße oder in den Prater. Dort gab es überall Jukeboxen, mit einem Schilling konnte man sich vier Singles anhören. Der erste Song, der dem kleinen Robert wirklich in die Zehen fuhr, war die Sauerkrautpolka von Gus Backus. Er trug knielange Cloth-Hosen aus schwarzem Leinenstoff, dazu Hemden und aufgeschürfte Knie, als er die Volksschule in der Leopoldsgasse besuchte und dann die Hauptschule in der Oberen Augartenstraße. Dass es eine "Angewandte" gab, auf der er, ein im Zeichnen Begabter, mal hätte studieren können, davon wusste in seiner hermetischen Welt niemand etwas.

Dort, wo heute der Konzertsaal der Wiener Sängerknaben untergebracht ist, war früher eine Autowerkstatt mit Tankstelle. Daneben wohnte die junge Hausmeisterin, sie hatte Soul-Platten in ihrer Wohnung und hörte weichen Beat – "Silence Is Golden, solche Sachen". Wolf verbrachte viele Nachmittage bei der Dame, die auch eine schöne Bar mit vielen Likören in allen erdenklichen Farben hatte. Er war dreizehn, als er den ersten Rausch mit nach Hause brachte. Dort lag er dann auf der Eisencouch, und seine Stiefmutter fragte ihn besorgt, was denn los wäre. Und er fragte sich das auch.

Der Jugendliche sucht nach seiner Identität, und Robert suchte sie im Bravo, das damals noch mehr Musikheft war als Aufklärungspostille, in Lupo Modern (einem Spin-off der Fix und Foxi-Hefte), oder im Hobby Magazin für Technik. Außerdem hatte seine Familie als erste im Haus einen Fernseher, aus dem seltsame Meldungen drangen: Eine Musikgruppe namens The Beatles befand sich gerade in Amerika, Mädchen fielen reihenweise in Ohnmacht.

Musik konnte etwas bewirken, und Fernsehen war informativ damals, es durften nur keine ÖVPler darin vorkommen. Dann nämlich schrie sein Stiefvater "Du Sakristeiwanze! Du Kuttenbrunzer!", und er drohte mit der einen verbliebenen Hand. Seit dem Justizpalastbrand 1927 konnte er die Bürgerlichen nicht leiden, seit damals war er ein Roter. Und obwohl er den Krieg hasste, hört er nach wie vor beinahe ausschließlich Marschmusik, allerhöchstens mal Wienerlieder. Die gegenwärtige Wienerlied-Renaissance löst in Wolf daher nur Abscheu und Ekel aus, Voodoo Jürgens kommt ihm nicht auf den Plattenteller.

"Discotheken", erinnert er sich, "gab es einige wenige: eine am Gürtel. Und das Papillon beim Haus des Meeres. Und eine im Prater beim Eisernen Mann." Sogenannte Clubs gab es auch ein paar: "Das Strohkoffer, das Gutruf im Ersten, das Voom Voom im Achten." Und im Vanilla auf der Freyung traten Pluhar, Heller oder Leherb auf. Wolf ging lieber flippern in den Prater, dort spielte er in der Darling-Halle, der Fortuna-Halle oder der Klaus-Halle. Wenn man allzu viele Freispiele schaffte, so wie er, dann drehten die Hallenbesitzer an den Knöpfen der Automaten und erhöhten die Challenge.

Haare über die Ohren

Aus den Jukeboxen hörte er nun die Stones, die Beatles, Fleetwood Mac und dazwischen Roy Black oder den Babysitter Boogie. Manche in seiner Schule ließen ihre Haare nun "über die Ohren" wachsen oder hinten "über den Kragen". Er selbst musste nach wie vor den "amerikanischen Haarschnitt" erdulden, so nannte man die HJ-Frise nach dem Krieg.

Nach dem Polytechnischen am Max-Winter-Platz aber sagte die Stiefmutter überraschend: "Du wirst Frisör. Da kannst du gut pfuschen!" Und im Geschäft wurden lange Haare von ihm erwartet, weil die Mode nun eine andere war: Die Blumenkinder sangen "Be sure to wear some flowers in your hair!". Den Adoptiveltern war seine Frisur natürlich peinlich, aber sie hatten immerhin eine Erklärung für die Nachbarn: "In der Arbeit muss der Robert so ausschaun!"

Wolf fing in einem Salon in der Leopoldsgasse an, aber der Lehrherr ließ ihn nur putzen, so ein Frisiersalon war voller Chrom: "Da schau her, Rotzbub! Da hast nicht geputzt!", hieß es ständig, er ließ ihn sogar nach der regulären Arbeitszeit putzen. Die Adoptivmutter aber war mittlerweile Bedienerin in einem KPÖ-Lokal und nicht der Typ, der sich etwas gefallen ließ. "Geh zur Gewerkschaft!", riet sie dem Sohn, und bald wurde dem Lehrherrn für ein Jahr die Lehrerlaubnis entzogen. Arbeitnehmerrechte galten etwas in jenen Tagen, und seither ist Wolf mit "der Bewegung" verbunden. Erst als Viktor Klima SPÖ-Chef wurde, trat er aus, aber vor drei Jahren trat er wieder ein.

Er wechselte in den Salon Brigitt ohne "e" in der Kleinen Pfarrgasse. Und er war tatsächlich gut im Pfuschen. Der häufigste Satz, den er damals hörte: "Kommst halt in vier Wochen wieder!" Wolf hatte also ein bisschen Geld und konnte sich etwas leisten. Er und sein Freund Odo, Hausbesitzersohn, schauten gerne die Serie Mit Schirm Charme und Melone, also kauften sie sich Anzüge beim Dworschak-Modehaus im zweiten Bezirk, und beide hatten eine KTM Pony. Robert eine silberne, Odo eine blau-weiße.

Mit 17 lebte Wolf bereits in einer eigenen Wohnung in der Castellezgasse im zweiten Bezirk, 1200 Schilling zahlte er für die Miete, und 1600 Schilling verdiente er. Das hieß: Pro Woche war ein Hunderter zum Verblasen übrig. Zusammengespart ergab das bald eine japanische Gitarrenbilligkopie der Marke Ibanez, heute sind das begehrte Sammlerstücke. Mit dem Peter Bursch Gitarrenbuch brachte er sich ein paar Akkorde und die ersten Barrégriffe bei. Er hörte Frank Zappa, Deep Purple, T-Rex. Smoke on the Water aber spielte er nie.

Das Bundesheer bat ihn zu den Pionieren nach Neusiedl und dann nach Zwölfaxing, da mussten die langen Haare kurzzeitig wieder weg, aber es störte ihn nicht. Er hatte einen Film mit John Lennon gesehen, in dem dieser die Haare kurz trug. Odo blieb nach dem Bundesheer der Geschniegelte, aber Robert wechselte das Fach.

Rot gefärbt wie Johnny Rotten

Nach einem weiteren Jahr bei Brigitt ohne "e" sagte ein Freund zu ihm: "Komm zur Post, da hast einen Lenz!" Heute ist das schwer vorstellbar, aber "die Post suchte damals händeringend nach Mitarbeitern". Alleine im ersten Bezirk gab es 120 Austräger, Geld- und Eilzusteller nicht mitgerechnet. Heute sind es nur noch 40.

Anfang 1977 hatte sich Wolf die Haare dann aufgestellt wie ein Igel und wie Johnny Rotten rot gefärbt. Und während eines London-Aufenthalts im selben Jahr hörte er im Red Cow Club im Stadtteil Hammersmith The Lurkers und XTC. Die No-Future-Wut der von Arbeitslosigkeit geplagten Engländer teilte man in Wien aber nicht: "Wir hatten eher das Problem, dass wir nicht hackeln wollten!" Er war nun infiziert vom Virus Punk, zog aber nach wie vor täglich seine Runden um den Fleischmarkt, wo er seine Briefe austrug. Er war beliebt bei den Leuten, "weil ich zuverlässig war". Die Post war ein guter und toleranter Arbeitgeber, und wer bei der Gewerkschaft war, der war auch als Punk praktisch unkündbar.

Wer Wolf damals auf dem Flohmarkt am Hof im ersten Bezirk sah, der war beeindruckt. Dort traf er Christian Brandl, der in einem Plattenladen namens Audiocenter in der Judengasse arbeitete und später Gitarrist seiner Band werden sollte. Sie kamen ins Gespräch, als sie sich für die gleiche Gitarre interessierten, Wolf kaufte sie dem anderen vor der Nase weg, trotzdem wurden sie Freunde: "He, was hörst du so? Kennst du die? Sind die leiwand?" So und so ähnlich gingen die Gespräche. Brandl hörte Van der Graaf Generator und King Crimson, Wolf die ersten Platten von Brian Eno. Sie kauften im HiFi auf der Kärntner Straße ein, im 3/4 in der Seilergasse oder im Carola in der Opernpassage. Was die nicht vorrätig hatten, das kam über den Flash-Versand aus Deutschland, per Post.

"Brandl wohnte noch bei seinen Eltern", erzählt Wolf, "also gingen wir immer zu mir in die Wohnung Platten hören." Dort hatte er mittlerweile auch ein Schlagzeug neben der Ibanez stehen. Einer, der sich Frisbee nannte und später in der Band Vogue spielte, war ein so guter Gitarrist, dass Wolf sich ein bisschen was von ihm abschauen konnte. Bald waren auch Ali "Krawalli" Griehmann als Bassist sowie Drummer Rudi "Rüpel" Barcal mit dabei. Nach dem Vorbild der Sex Pistols (Johnny Rotten!) hatten sie sich mit diesen Beinamen geschmückt. Die Sache wurde halbernst. Sie übersiedelten aus Wolfs Wohnung in die Märchenabteilung des Audiocenters, wo sie nach Geschäftsschluss proben konnten.

Brandl nahm damals bereits Drogen, erzählt Wolf: "Unmengen Valium, aber wahrscheinlich auch schon Heroin. Er war zwar gut drauf, aber halt unzuverlässig, wenn es um Termine und so ging." Hat er seine Drogensucht bemerkt? "Am Anfang nicht." 1987 sollte Brandl im Drogenrausch aus dem Fenster einer Wohnung springen, zehn Jahre nach Gründung der Band, die sich auf Vorschlag von Wolf Chuzpe nannte.

Der hatte nämlich schon als Kind im zweiten Bezirk an jeder Ecke jüdische Ausdrücke wie "Zores" oder "Masel" gehört, die ihm gut gefielen, und irgendwann eben auch "Chuzpe". Bis heute sucht er nach einer wirklich passenden Entsprechung für dieses Wort im Deutschen. "Frechheit" kommt der Sache recht nahe, aber eben nicht ganz. Wer Chuzpe hat, der hat halt auch Stil und kann andere überraschen. "Klingt wie Kotzen", sagte einer, für den Punk nicht nur Musik war, sondern vor allem auch Biergenuss, am liebsten aus der Dose und vom Hofer. Die drei Kollegen von Wolf behielten ihre langen Haare mit der Begründung: "Die Ramones habe ja auch lange Haare!"

Der Treffpunkt für Musikbegeisterte und die wenigen wirklichen Punks in der Stadt hatte sich mit dem Flohmarkt vom Hof zum Naschmarkt an der Kettenbrücke verlagert, oder ins Café Merkur im achten Bezirk. "Man wusste auch, dass am Samstagnachmittag im La Boheme Punks waren", sagt Wolf, oder in einem Wirtshaus in der Beheimgasse im 17. Bezirk.

Und plötzlich war "Gemma Milchkandl!" eine Entsprechung für das heutige "Gemma Lugner!"-Deutsch der in Wien Heranwachsenden. Das Milchkandl war ein ehemaliges Kohlenlager in der Rotensterngasse im zweiten Bezirk, ein Bekannter von Wolf wollte daraus einen Klub machen, aber zunächst verlegten Chuzpe ihren Proberaum dorthin und feilten an ihren Songs.

Wolf war ein begeisterter Fan von Ambros, für den Prokopetz großartige Texte schrieb, und ein Fan von Danzer, der selbst großartige Texte schrieb. Und er las ständig. Obwohl sie alle Arbeiter waren, hatten sie ständig Bücher bei sich: Artmann, Kafka, Tolkien, Bukowski: "Alles, was ein bisserl abseitig war. Die städtischen Büchereien waren sehr gut ausgestattet!", erinnert sich Wolf. Sprache war wichtig: Die Worried Men Skiffle Group zum Beispiel vertonte Konrad-Bayer-Gedichte oder Friedrich Achleitner, und Wolf textete seine ersten eigenen Songs. Sie hießen Ferien in Stalingrad, Die Madln aus Wean oder Amoklauf Bop.

Ohne Gage, aber glücklich

In der Schönen Helena im siebenten Wiener Bezirk sollte eine Hannes Strasser Group auftreten, und die suchte über einen Musicbox-Aufruf noch eine Vorgruppe. Wolf hörte das und lief sofort hinunter zur Telefonzelle: "Ihr braucht nur die Instrumente mitnehmen", sagte man ihm. Sie hatten nun sieben oder acht Nummern im Repertoire, ein paar eigene, aber auch Marmor, Stein und Eisen bricht! sowie 17 Jahr, blondes Haar von Udo Jürgens. Auftrittstechnisch hatten sie sich seit 1971 an Novak's Kapelle und Drahdiwaberl geschult, "die hatten großartige Shows". Wolf sah sie im Bayerischen Hof oder im Auge Gottes neben dem gleichnamigen Kino im neunten Bezirk, das es heute auch nicht mehr gibt.

Wie bei den Ramones waren auch bei Chuzpe die Songs laut und kurz. Nach zehn Minuten war in der Helena alles vorbei, und die 20 Zuhörer waren, nun ja: verwirrt. Es war aber auch ein Mädchen dort, das bereits blond gefärbte Haare mit schwarzen Strähnen hatte und dunkel gefärbte Augen, und dieses Mädchen sagte: "Cool!" Ohne Gage, aber besoffen fuhren Chuzpe glücklich nach Hause.

Das erste eigene Konzert fand schließlich am 4. November 1977 im Milchkandl statt. Die Plakate dafür kopierte Wolf heimlich bei seinem Arbeitgeber, der Österreichischen Post. Der Keller war voll. "Es kamen viele Neugierige und Langhaarige", erinnert sich Wolf, aber auch schon ein paar richtige Punks. Sie nannten sich Vali, Bernie, Kodak, Panza, Nivea, Marina oder Cola. Und auch das Mädchen aus der Schönen Helena war wieder gekommen, von dem Wolf den Namen nie erfuhr. Österreich hatte seine erste Punkband, der Spaß konnte beginnen. (Manfred Rebhandl, Album, 8.4.2017)