Perugia – 15 der zwischen 150 und 160 Journalisten, die in türkischen Gefängnissen sitzen, sollten Ende vorige Woche freigelassen werden. Die Familien und Angehörigen der Betroffenen hatten sich bereits vor dem Gericht versammelt als die Nachricht kam: Alle 15 würden eines neuen Vergehens beschuldigt und seien erneut in Polizeigewahrsam. Eine Aktion, die wieder einmal klarmacht, wie verheerend die Situation des Journalismus in der Türkei ist. 62 Prozent der weltweit inhaftierten Journalisten sitzen in der Türkei hinter Gittern – das ist die höchste Zahl, die jemals in diesem Zusammenhang registriert wurde.

245 Fernsehsender gäbe es in der Türkei, sagt Yavuz Baydar, Mitgründer des TV-Senders P24, beim Journalismusfestival in Perugia. Nur eineinhalb davon seien unabhängig. Der eine sei Halk TV, ein kleiner Sender der finanziell sehr schwach sei, der andere sei Fox TV, der dem Medienunternehmer Rupert Murdoch gehört. Im Print-Bereich gäbe es lediglich vier von den vierzig nationalen Zeitungen, die sich noch von der Regierung distanzieren würden. Diese seien aber mit zahlreichen Anklagen konfrontiert, wie etwa Cumhuriyet.

Publikumsaktion beim Panel über "Turkey: A Black Hole for Journalists"
Veronika Felder für derStandard.at

"Journalisten sind Sklaven der Zensur"

Die Aussichten für kritische türkische Journalisten seien also sehr düster. Laut Gulsin Harmann vom International Press Institute seien kritische Journalisten in der Türkei entweder mit Gefängnisaufenthalten, Arbeitslosigkeit, Zensur oder der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit internationalen Medien konfrontiert. Letzteres führe oft dazu, dass die Journalisten von der einheimischen Bevölkerung als Verräter dargestellt würden. Viele wüssten nicht mehr, welche Handlungen nun eigentlich als ein Verbrechen bezichtigt würden. Reicht das Teilen eines Posts auf Facebook oder die Arbeit in einer internationalen Medienagentur?

"Journalisten sind zu Sklaven der Zensur geworden und ihre Redaktionen zu Gefängnissen": Eine Art genetisch modifizierte Medien sei entstanden, so drückt Baydar seine Wahrnehmung der Situation in der Türkei aus. Einer der vielen Gründe, auf den die kritische Situation des türkischen Journalismus laut ihm zurückgeführt werden kann, sind die Besitzverhältnisse der türkischen Medien. Korruption und die Verbrüderung mit politischen Akteuren führte nicht nur zum Zerfall einer pluralistischen und unabhängigen Medienlandschaft, sondern auch zur Gefährdung der Demokratie.

Das Panel in Perugia: Efe Kerem Sozeri (Dekadans.co), Yavuz Baydar (P24), Gulsin Harman (International Press Institute), Marta Ottaviani (La Stampa).

Veronika Felder für derStandard.at

Zensuriert werde auch auf Social Media-Plattformen wie Twitter. Im zweiten Halbjahr 2016 wurden 79 Prozent der weltweiten Zensuren, die auf Twitter stattfanden, von der Türkei durchgeführt, so Efem Kere Sozeri, Redakteur von Dekedans.co. Hierbei verfolge die Regierung den effizientesten Weg, nämlich den rechtlichen. Twitter müsse sich in der Türkei 15-mal häufiger mit Gerichtsbeschlüssen herumschlagen als in anderen Ländern und habe wenig Möglichkeiten dagegen anzugehen: Bis dato habe der Konzern noch keine der Zensur-Anordnungen verhindern können.

Der Putsch

Marta Ottavani, Auslandskorrespondentin von La Stampa in der Türkei, sieht den Putsch vom Juli letzten Jahres als ein einschneidendes Ereignis in der Entwicklung des türkischen Journalismus. Der Großteil der inhaftierten Journalisten werde nicht wegen journalistischen Aktivitäten festgehalten, sondern weil ihnen terroristische Handlungen vorgeworfen würden. Auch als ausländische Journalistin werde sie wie eine Feindin behandelt – und das nicht nur von der Politik, sondern auch von der Bevölkerung, so Ottavani. Viele Menschen seien nämlich türkischen, aber auch ausländischen Journalisten gegenüber argwöhnisch und zeigten auch vermehrt Hass. Für Ottavani ist dies damit zu erklären, dass Erdogan seit 2014 gegen die EU, den Westen und seine Bürger mobilisiert.

Die Lehre aus der Türkei

Ausländische Journalisten könnten einiges lernen von der Situation in der Türkei, meint Harmann. Etwa, dass gesetzes- und verfassungswidrige Handlungen von Anfang an angeprangert werden müssten, und auf keinen Fall zur Normalisierung führen sollten. Außerdem sollte der Bevölkerung nähergebracht werden, dass Journalismus für alle gemacht würde und nicht nur für eine ausgewählte Elite. Der Fokus der Journalisten sollte generell darauf liegen, was die Gesellschaft verbindet, sie sollten auf keinen Fall dem Populismus in die Hände spielen. (Veronika Felder, X.4.2017)

Das Video vom Panel "Turkey: A Black Hole for Journalists" beim Journalismusfestival in Perugia:

International Journalism Festival