Auf dem Syntagmaplatz in Athen werden Jutesäcke zusammengenäht. Die Kunstaktion von Ibrahim Mahama ist Teil der Documenta 14, mit der in Athen und später im deutschen Kassel unter anderem auf die Folgen der Finanzkrise aufmerksam gemacht werden soll, die Griechenland voll erfasst hat.

Foto: AFP/Louisa Gouliamaki

Weil ich 2002 im Vertrauen auf Überlegungen des Wiener Ökonomen Erich Streissler eine von den USA ausgehende Weltwirtschaftskrise richtig vorhergesagt habe, wurde ich anlässlich des 60. Geburtstages der EU gefragt, wie weit ich an die Zukunft des Euro glaube. Meine Antwort fällt diplomatisch aus: Deutschland und Österreich werden ihn sicher behalten. Etliche Länder des "Südens" eher nicht – wenn ich auch den Überlegungen der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman vertraue.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat kürzlich drei Texte zur wirtschaftswissenschaftlichen Grundlage des Euro veröffentlicht. Sie ist erstaunlich dünn: Eigentlich gibt es nur Studien, die vermuten lassen, dass eine gemeinsame Währung dort am leichtesten zu implementieren ist, wo die beteiligten Volkswirtschaften einander ähneln. Aber selbst diesbezüglich gibt es eine Arbeit, die zur gegenteiligen Ansicht gelangt. In Wirklichkeit haben sich die Väter des Euro wohl schlicht am Erfolg des Dollar orientiert. Deutschland freilich kennt nur eine perfekte Währung – die D-Mark. Deutschlands überragender wirtschaftspolitischer Einfluss hat dazu geführt, dass der Umgang mit dem Euro von Beginn an kein amerikanischer, sondern ein deutscher – in meinen Augen falscher – gewesen ist.

So resultiert die besondere Stärke des Dollar daraus, dass nicht nur die einzelnen Bundesstaaten, sondern die USA in ihrer Gesamtheit für ihn haften. Eben dem hat Deutschland sich beim Euro energisch widersetzt.

EZB-Chef Mario Draghi hat es nur in äußerster Not und gegen heftigste Kritik seitens Schäuble & Co simulieren können, indem er erklärte, die gemeinsame Währung "mit allen Mitteln" (theoretisch auch denen Deutschlands) zu verteidigen. Deutschlands Oberster Gerichtshof hält das bis heute für unzulässig, und Merkel wie Schäuble lehnen es unverändert ab. Dem entspricht ihre energische Ablehnung von "Eurobonds", während US-Bundesstaaten bei ihren Krediten selbstverständlich von der Bonität der USA profitieren.

Generell übernimmt die US-Regierung die Finanzierung der Arbeitslosigkeit und der Sozialprogramme aller Bundesstaaten – eine solidarische Abfederung von Risiken, wie Deutschland sie in der EU einmal mehr energisch ablehnt. Ökonomen schätzen, dass diese Abfederung in den USA um die 30 Prozent des Budgets ausmacht und dementsprechend für den notwendigsten internen Ausgleich zwischen den Bundesstaaten sorgt. Dass er in der EU fast völlig fehlt, wird sie entsprechend leichter zerfallen lassen.

Lohnzurückhaltung als Waffe

Zu diesen grundsätzlichen Fehlern addieren sich Fehler in entscheidenden Details. In Deutschland wie hierzulande wird es als zentraler Fehler bei der Einführung des Euro angesehen, dass ihn so unterschiedlich starke Volkswirtschaften wie Luxemburg, Deutschland und Portugal erhielten. Aber Mississippi, Kalifornien und Delaware unterscheiden sich im BIP pro Kopf nicht minder.

Der viel relevantere Unterschied betrifft die Mobilität: Ein Amerikaner, der mit seinem Job in Mississippi unzufrieden ist, sucht viel eher einen neuen in Kalifornien als ein Portugiese in Deutschland (denn zumindest kann er die Sprache). Diese in der EU viel geringere Mobilität setzte mehr, nicht weniger solidarischen internen Ausgleich voraus, wenn extreme Spannungen vermieden werden sollen.

Stattdessen hat Deutschland die wirtschaftlichen Spannungen nach Kräften erhöht: Es hat sich, wie im Zeitalter des Merkantilismus, durch "Lohnzurückhaltung" einen wachsenden Exportvorteil verschafft, indem es seit Gerhard Schröder seine Löhne nicht mehr im Ausmaß seines Produktivitätszuwachses erhöht – während etwa Frankreich dies sehr wohl tat oder Spanien seine Löhne sogar überproportional erhöhte. Das musste nach einigen Jahren folgende ökonomischen Folgen haben:

· Deutschland musste im Export Marktanteile – und Arbeitsplätze – dazugewinnen, die anderen Volkswirtschaften verlorengingen. Frankreichs hohe Arbeitslosigkeit entspricht dem deutschen Arbeitskräftemangel.

· Indem die "Lohnzurückhaltung" ausschloss, dass die Deutschen ihre Mehrproduktion wenigstens zu einem Teil selbst konsumierten, war Deutschland davon abhängig, dass dies anderswo geschah.

Leichtfertige spanische, portugiesische oder griechische Banken haben es ermöglicht, indem sie ihren Landsleuten fahrlässige Kredite erteilten – was sie unter anderem konnten, weil ihnen leichtfertige deutsche und französische Banken fahrlässig jedes Geld zur Verfügung stellten. So wurden die Kredite zur Finanzierung deutscher Exporte Teil des südlichen Schuldenproblems – und wären zu einem deutsch-französischen Bankenproblem geworden, wenn die Banken des "Südens" nicht zu dessen Lasten "gerettet" worden wären.

· Andere Volkswirtschaften, voran die schwachen "südlichen", konnten ihren Absatz in Deutschland (und damit ihre Auslastung und Beschäftigung) nicht steigern, weil die Lohnzurückhaltung die Kaufkraft der Deutschen massiv begrenzte.

Das alles musste die immer vorhandene Nord-Süd-Kluft massiv vertiefen.

Der letzte von Deutschland verbrochene Verstoß, diesmal gegen jede wirtschaftliche Logik, bestand im "Sparpakt". In einer Nachfragekrise, wie sie unzweifelhaft vorliegt, schwächelt die Nachfrage der Konsumenten (schon gar der "lohnzurückgehaltenen"), weil sie die Zukunft eher besorgt einschätzen; und schwächelt die Nachfrage der Unternehmer, weil es widersinnig wäre, in die Erweiterung von Produktionsanlagen zu investieren, solange die Nachfrage der Konsumenten schwächelt. Wenn in dieser Situation auch noch alle Staaten ihre Nachfrage, noch dazu im Gleichschritt, senken, kann die Wirtschaft denkunmöglich wachsen. Denn jeder Verkauf setzt einen Einkauf voraus.

Dass Deutschland dennoch Verkaufsrekorde erzielt, liegt an den hinzugewonnenen Marktanteilen und daran, dass es einen besonders großen Teil seiner Verkäufe außerhalb der EU, in China und vor allem den USA, tätigt. Dass die schlechte Performance der restlichen Eurozone den Kurs des Euro gegenüber dem Dollar von 1,50 bis fast zur Parität sinken ließ, ist dabei ein Turbo, der sogar dem tumben Donald Trump aufgefallen ist. Die Lage Spaniens, Portugals oder gar Griechenlands, die vornehmlich Agrarprodukte fast nur in Europa verkaufen, hat mit der Deutschlands leider null Gemeinsamkeit.

Wachstum trotz Sparkurses

Wenn ihre Wirtschaft seit drei Jahren dennoch wächst, liegt das nicht, wie Schäuble behauptet, an den Segnungen des Sparkurses, sondern daran, dass sie zuvor sechs Jahre so dramatisch geschrumpft ist beziehungsweise am Rande daran, dass diese Länder derzeit dank des Terrors in Afrika und der Türkei einen einzigartigen Tourismus-Boom erleben.

Wie es wirklich wirtschaftlich um sie bestellt ist, zeigen ihre Beschäftigtenzahlen: In Griechenland ist die Beschäftigung von 4,53 Millionen im Jahr 2006 auf 3,68 Millionen gesunken, in Portugal von 5,1 auf 4,69 und in Spanien von 19,94 auf 18, 39 Millionen – obwohl der Fremdenverkehr die beschäftigungsintensivste aller Industrien ist.

Ich zweifle mit Stiglitz, dass der "Süden" dauerhaft mit dieser Situation fertigwird, denn er hat seine Löhne bei ungleich längeren Arbeitszeiten als denen des "Nordens" bereits erheblich gesenkt, und jede weitere Senkung ließe auch noch die bescheidene Binnenkonjunktur zusammenbrechen.

Dass Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem als engster wirtschaftspolitischer Partner Wolfgang Schäubles in der EU dann noch weiß, dass der Süden sein Geld "für Schnaps und Weiber" ausgibt, lässt mich für möglich halten, dass ein Wahlsieg Beppe Grillos in Italien den Euro sogar schon demnächst ins Wanken bringt. Italien hat seit 2009 ein Viertel seines BIP eingebüßt. (Peter Michael Lingens, 10.4.2017)