Als echter – weil sogar mit der gleichen Postleitzahl wie Familie Sackbauer aufgewachsener – Wiener hat man ja einen Ruf zu wahren. Den des ewigen Nörglers nämlich. Also muss ich heute jammern: In Südtirol laufen zu gehen und dabei nicht im Wald über Stock, Stein und Wurzeln zu hirschen oder – noch besser – hoch hinaus über die Baumgrenze ins (Hoch-)Alpine zu rennen (und dabei dann dem Yeti oder sogar Reinhold Messner zu begegnen) ist deprimierend. Schließlich ist Südtirol an sich und das Pustertal im Besonderen ein Traum. Im Winter wie im Sommer. Im Herbst auch. Und im Frühling erst recht. Und immer, immer, immer hat das mit Bergen zu tun. Wie doof – oder arm – muss man also sein, wenn man in Südtirol laufen geht – und im Flachen bleibt?

Foto: Thomas Rottenberg

Ja eh: Das ist Jammern auf allerhöchstem Niveau. Und auch das ist untertrieben. Aus Gründen, die noch nicht einmal ansatzweise etwas damit zu tun haben, dass es schlichtweg traumhaft schön ist, an der Rienz zwischen Ehrenburg, Kiens und ein paar anderen Orten zu laufen: Wenn die Sonne frühmorgens schräg hinter und über dem Kronplatz erstmals ins Pustertal zwinkert, wenn der Fluss zu glitzern beginnt, wenn das Tal plötzlich leuchtet und sich Wärme durch den Schatten und die Kälte des bis jetzt renitent "Wieso hast du mich aus dem Bett geworfen, während alle anderen noch schlafen?"-greinenden, immer noch bettschweren Körper zuerst unter die Jacke und dann durch die Haut ins Herz durchnagt, kommt irgendwann dieser eine Augenblick.

Foto: Thomas Rottenberg

Dieser Moment, in dem mir das Herz aufgeht. Wo ich gleichzeitig lachen und heulen will. Wo ich im selben Atemzug jubeln und andächtig schweigen muss. In dem ich synchron ganz da und vollständig weggetreten bin. Und nur noch glücklich, dankbar und froh bin. Dafür und darüber, dass es diesen Moment gibt. Dass ich wieder einen jener Herzausreißer-Augenblicke erleben darf, die man für kein Geld der Welt kaufen kann – und die jeder und jede erleben kann. Wenn man sie sich dort abholt, wo sie warten – das kann bei jedem Mensch etwas anderes sein. Bei mir ist es eben unter anderem das Laufen. Und ich rede hier nicht vom ominösen "Runner’s High", sondern von etwas viel Banalerem und gleichzeitig Zentralerem: dem Spüren, dass das Leben wunderschön ist – und dem Erkennen, dass ein kleiner Schritt aus der eigenen Komfortzone hinaus genügt, es noch viel schöner – "tausendschön" sagt eine Freundin dazu – zu machen. Egal wie anstrengend der Tag rundherum sein oder werden mag.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn ich war nicht nur zum Vergnügen hier: Im wirklichen Leben habe ich so etwas wie einen Beruf. Der hat, nicht zuletzt aus Compliance-Gründen, hier nichts zu suchen, führte mich vergangene Woche für ein paar Tage nach Südtirol und war durchaus auch anstrengend. (Hatten wir den Begriff "Jammern auf hohem Niveau" schon?)

Doch während meine Kollegen und Kolleginnen wie tot in ihren Betten lagen und versuchten, durch Schlaf verlorene Energie zurückzuholen, war ich – eigentlich gar nicht so früh – halbtot aus dem Bett gewankt, hatte es irgendwie in die Laufschuhe und dann hinaus auf den Radweg geschafft: Während Touristiker anderswo erkannt haben, dass man (fast) jeden Rad- und Wanderweg lediglich auch als Lauf- und Nordicwalking-Route ausschildern muss, um das Freizeitangebot zu verdoppeln oder zu verdreifachen, ist man hier (noch) nicht so weit: "Laufstrecken? Hm. Da hamma eigentlich nix." – Und der Weg da unten am Fluss? – "Desch? Na, desch isch jo nur da Weg zum Spazierengehn und zum Radlfoan." Äh, ja …

Tschuldigung: Ich schweife ab.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn all das ist – wie bereits gesagt – nicht einmal ansatzweise Grund genug, mein Eingangsgesudere als Mundl-Nörgelei eines Super- bis Mehrfach-Privilegierten zu enttarnen – und trotzdem erst der Einstieg ins authentische Wiener Jammern: Wie letzte Woche hier beschrieben, bin ich nämlich über Ostern in Boston. Und darf – von der B.A.A, der Boston Athletic Association, eingeladen – beim zweitältesten Marathon der Welt mitlaufen. Den Startplatz bezahle ich voll. Beim sonstigen Reisedrumherum greifen mir der Lauf-Reiseveranstalter "Runners Unlimited" sowie die KLM unter die Arme. Oder Beine. Im Reisejournalismus ist derlei, egal ob man läuft, auf dem Strand liegt oder Museen besucht, Usus: Kein europäisches Blatt (aber auch sonst weltweit kein Medium und auch kein reisender Journalist oder Blogger) könnte sich Reisegeschichten sonst leisten. Ob man mit offenen Karten spielt, steht halt auf einem anderen Blatt. Erstaunlicherweise bekommen aber nur die, die die Einladungen und Zuschüsse korrekt ausweisen, Watschen. Nicht nur hier. Dort, wo derlei nicht deklariert wird, wird es vom Publikum weder thematisiert noch hinterfragt. Egal – weil hier "off topic".

Foto: Thomas Rottenberg

Was das mit meinem Jammer zu tun hat? Nun: Das läuferische "Problem" bei jedem großen Laufevent ist die Zeit unmittelbar davor. Man trainiert ein halbes Jahr systematisch und konzentriert und hat in den letzten Wochen vor dem Lauf vor allem eine Sorge: sich die mühsam und sorgfältig antrainierte Marathonreife nur ja nicht in allerletzter Sekunde kaputtzumachen. Verkühlungen, Magen-Darm-Grippe oder irgendein Virus sind nur ein kleiner Auszug aus der Liste der Alles-im-Nu-kaputt-Macher.

Noch blöder: Sportverletzungen. Weil man sich dann unter Garantie den Vorwurf macht, dass man doch ordentlich einen an der Waffel haben muss, zwei Wochen vor dem Höhepunkt des Sportjahres zum ersten Mal Skispringen zu gehen. Oder Kickboxen. Oder Downhill-Mountainbiken …

Trail laufen – also in Südtirol das tun, wonach die Gegend, die Jahreszeit und meine Beine förmlich schreien – wäre genau jetzt in etwa genauso schlau: Einmal über eine Wurzel stolpern, voll aufs Knie knallen – und aus. Tut man das? Nein, nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Auch dann, wenn es schwerfällt.

Foto: Thomas Rottenberg

Und auch ohne Unfallgefahr ist da noch etwas: die "Taperingphase". So wie es keinen bis sehr wenig Sinn macht, in den letzten drei Minuten vor einer Lateinschularbeit noch auf Hochdruck Vokabeln zu stucken, ist es auch nicht zielführend, in den letzten Tagen vor einer Maximalbelastung im Training noch voll auf Anschlag zu gehen. Wer zwei Wochen vor einem Marathon noch nicht weiß, ob er oder sie genug Kilometer in den Beinen hat, um sich die volle Distanz zumindest zuzutrauen, erreicht mit Longjogs in den letzten zehn bis 14 Tagen in der Regel genau das Gegenteil von dem, was er oder sie erreichen will.

Und wer jetzt noch ("eh nur ein bisserl") an der Temposchraube zu drehen versucht, riskiert im Wettkampf, dann all zu früh mit leeren Tanks dazustehen: Was der Körper jetzt braucht, ist ein gut ausbalancierter Mix aus Erholung und Anstrengung: Tapering.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Blöde daran: Richtig "tapern" ist schwierig. Sagen Menschen, die davon eine Ahnung haben. Leute wie Harald Fritz, mein Trainer vom "Team Ausdauercoach" etwa. "'Tapering' bedeutet 'zuspitzen' vor dem Wettkampf", doziert Fritz. "Es gilt, die richtige Mischung aus Erholung und Vorbereitung für den Wettkampf zu finden. Wie so vieles andere beim Training ist auch das höchst individuell. Das Grundprinzip: Volumen reduzieren, Häufigkeit und Intensität eher gleich lassen. Einige beginnen drei Wochen vor ihren Wettkämpfen damit (bei Triathlons) andere zwei Wochen (Marathon) – und andere "tapern" kaum. Ergänzend kommt auch noch die Ernährung (Carboloading!) dazu, die an das Ganze angepasst werden sollte."

Die Balance zwischen Erholung und Training zu finden, betont Fritz, sei Erfahrungssache: "Wer glaubt, zu viel Ruhe schadet nicht, kann irren, denn wenn der Körper auf Ruhemodus schaltet, ist er am Wettkampftag nur schwer aufzuwecken." Und: Männer und Frauen sind zwar gleichwertig – aber eben nicht gleichartig: "Frauen halten viel mehr aus und gehören in der Woche vor dem Wettkampf viel intensiver belastet als das mit Männern machbar wäre." Fritzens Fazit: "Alles in allem ist es eine Kunst, das wirklich richtig hinzubekommen: Nur Erfahrung – und einige verpatzte Wettkämpfe – führen auf den richtigen Pfad."

Foto: Thomas Rottenberg

In Summe ergibt all das also ein authentisches Bild meines Südtiroler Elends: Da steht man in der schönsten Landschaft der Welt. Es ist Frühling. Man ist – für eigene Verhältnisse – in der Form seines Lebens. Alles, alles, alles in und rund um einen herum schreit: "Trailschuhe! Rucksack! Ab in den Wald! Rauf auf den Berg! Und rennen, rennen rennen – bis nix mehr geht. Bis dir Reinhold Messner erscheint. Oder zumindest der Yeti. " Also ganz normales Suchtverhalten.

Bloß: Was tue ich? Ich jogge am Fluss. Spiele eine Stunde fades Fahrtenspiel. Laufe locker. Gehe dann duschen, frühstücken und arbeiten.

Und beschwere mich. Sudere. Klage. Suche und finde Haare in der Suppe. Fühle mich vom Leben betrogen, diskriminiert und ausgegrenzt.

Weil ich nicht anders kann und auch nicht anders darf. Ich bin schließlich ein echter Wiener und weiß daher, was man von mir erwartet: jammern – und zwar auf allerallerallerhöchstem Niveau. (Thomas Rottenberg, 12.4.2017)

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Thomas Rottenbergs Teilnahme am Boston-Marathon erfolgt auf Einladung der Boston Athletic Association und auf eigene Kosten. Aufenthalt und Flug werden von "Runners Unlimited" und der KLM unterstützt.


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Foto: Thomas Rottenberg