Ece Temelkuran setzt sich mit der Türkei auseinander – als Romanautorin, Journalistin und Juristin.

Foto: Muhsin Akgün

Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft. Diese Maxime hat die türkische Autorin Ece Temelkuran angetrieben, ihren jüngsten Roman Stumme Schwäne zu schreiben. Die Geschichte handelt von einer Kinderfreundschaft in den Monaten vor dem Militärputsch 1980 in der Türkei. Das Mädchen, Ayse, stammt aus gutem Hause, einer Beamtenfamilie. Ali, der Junge, hingegen wächst in einer Siedlung in bescheidenen Verhältnissen auf. Sie freunden sich an, weil Ali seine Mutter begleitet, die als Putzkraft bei Ayses Familie arbeitet. Die beiden Kinder verfolgen gemeinsam eine Mission: die Schwäne aus dem Schwanenpark zu retten, denen der Generalstabchef die Flügel stutzen will, um sie in seinen privaten Garten bringen zu lassen. Es ist eine Zeit politischer Unruhen. Das Land ist zutiefst gespalten. Der Terror auf den Straßen sorgt für bürgerkriegsähnliche Zustände. Eine Verhaftungswelle sucht das Land heim. Alle Menschen stehen unter Generalverdacht. Ein Klima der Angst beherrscht die Türkei in diesem Sommer 1980.

Es ist, als würde uns Temelkuran von der heutigen Türkei erzählen. Doch Stumme Schwäne ist auf Türkisch gut ein Jahr vor dem versuchten Militärputsch im vergangenen Sommer erschienen. "Der Roman ist nicht prophetisch, vielmehr soll er die Ursache für den heutigen Wahnsinn in der Türkei aufzeigen", sagt Ece Temelkuran. Nicht die Regierungspartei AKP allein habe die Türkei in den vergangenen 15 Jahren ins Verderben gestürzt. Die Saat sei nach dem Militärputsch von 1980 gelegt worden. "Dann bläute man den Menschen ein, dass Fragen zu stellen und kritisches Denken schlechte Dinge sind."

Die Flügel stutzen

Wir sitzen in einem Café in der Züricher Altstadt. "Ich bin erschöpft", sagt die 45-Jährige. Die Sonnenbrille mag sie trotz Schattenplatz aufbehalten. Zu hell sei es ihr, zu müde sähen ihre Augen aus. Sie ist derzeit viel unterwegs. Zu Podiumsdiskussionen über den Krisenherd Türkei und Lesungen zu Stumme Schwäne. Den Roman habe sie nach den Gezi-Protesten im Sommer 2013 angefangen zu schreiben. "Sie erinnerten mich an die Aufstände der Linken in den späten 1970ern." Ece Temelkurans Erscheinungsbild gibt kaum das einer Aktivistin ab. Vielmehr gleicht es einer Grand Dame der 1920er-Jahre. Sie trägt eine Bluse, die sie in den hochtaillierten Rock gesteckt hat. Ihre dunkle Lockenmähne ist säuberlich frisiert. Im Gespräch erfährt man, dass sie zumindest als Beobachterin stark in die politischen Geschehnisse der Türkei involviert ist. "Ich wollte die Geschichte der Türkei erzählen, in der Ereignisse zyklisch sind, weil sich die Menschen kaum an die Vergangenheit erinnern." Mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme klingt das Gesagte nach. Zudem sei es ihr ein Anliegen, dass auch die Länder in Europa mehr über die Türkei erfahren. "Künftig werden vermutlich viele progressiven Kräfte – Journalisten, Autoren, Intellektuelle – in Europa arbeiten und leben."

Kenan Evren, ehemaliger General und Premierminister der Türkei, will 1984 tatsächlich Schwäne aus dem Schwanenpark in Ankara in einen anderen entführt haben, so wie es in Stumme Schwäne adaptiert wurde. "Als die Schwäne wieder in ihren gewohnten Park zurückfliegen wollten, schlugen sie angeblich an Hochhäuserfassaden auf und starben", erzählt Temelkuran. Daraufhin habe Evren den Befehl erteilt, den Schwänen die Flügel zu stutzen. "Unfassbar, aber viele Menschen in Ankara glauben noch heute, dass Schwäne gar nicht fliegen können", sie habe das in den vielen Gesprächen realisiert, die sie für ihre Recherchen in Ankara geführt hat. Der Autorin zufolge ist dies "ein Sinnbild für die Auswirkung des Militärputsches 1980", die bis ins Heute reicht. "Der Putsch hat uns vergessen lassen, dass wir fliegen können. Dass unsere Flügel Kraft haben und uns überall hintragen." Sie will gerade die jungen Menschen daran erinnern, dass es einmal eine andere Türkei gab. "Der linke Widerstand hatte Ende der 1970er-Jahre großen Aufwind. Die Gesellschaft war im Begriff, einen liberalen Wandel zu durchlaufen." Nur seien diese Errungenschaften "aus den Gedächtnissen gelöscht" worden.

"Ich spürte, das 'Böse' hatte gesiegt"

"Meine Neffen Max Ali und Can Luka, die bei dem Putschversuch am 16. Juli 2016 ungefähr so alt waren wie ich bei dem Putsch vom 12. September 1980. Ich bin gespannt, was ihr nicht vergessen und woran ihr euch noch erinnern werdet", steht zu Beginn der deutschsprachigen Ausgabe von Stumme Schwäne. Ece Temelkuran war acht Jahre alt, als am 12. September 1980 in der Türkei die militärische Machtübernahme ausgerufen wurde. Sie erinnert sich noch an einen Moment: "Ich wachte gegen Morgen auf, weil ich das Radio hörte. Meine Eltern saßen im Pyjama am Küchentisch und hörten Nachrichten. Ich spürte, das 'Böse' hatte gesiegt. Auch wenn ich das Ausmaß noch nicht begriff." Dass sie ihren Roman aber abwechselnd aus der Perspektive der beiden Kinder erzählt, habe weniger mit ihrer persönlichen Erinnerung zu tun: "Kinderaugen sehen komplizierte Verhältnisse kristallklar. Und erkennen die Essenz." Und genau das brauche es, um die komplexe Vergangenheit der Türkei aufzuschlüsseln.

Ece Temelkuran setzte sich bislang nicht nur als Romanautorin mit der Türkei auseinander. Die studierte Juristin zählt auch zu den profilierten Journalistinnen in ihrer Heimat und war jahrelang für diverse Medien tätig. Dann kündigte man ihr wegen eines Artikels. "Ich berichtete 2011 über ein Massaker an der türkisch-syrischen Grenze. Die türkische Armee erschoss Kinder, die sie fälschlicherweise für Terroristen hielt. Die Kinder aber schmuggelten Tabak über die Grenze." Die Regierung wollte die Geschichte nicht in der Zeitung wissen. Sogleich kündigte ihr der leitende Redakteur. "Man stigmatisierte mich. Ich fand keine Anstellung mehr." Seither ist sie vor allem Buchautorin, international auch nicht mit wenig Erfolg. Auf Deutsch erschienen zuvor das Sachbuch Euphorie und Wehmut: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst sowie die Roadgeschichte Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann. Den Journalistenberuf vermisst sie "überhaupt nicht, nein! Entweder wäre ich jetzt arbeitslos oder im Gefängnis." Als Buchautorin gehe sie aber ähnlich vor wie als Journalistin. Für ihre Romane recherchiere sie genauso viel wie für ihre Artikel damals, und sie arbeite auch mit wahren Begebenheiten, wie etwa bei der Geschichte mit den Schwänen.

Die Gräben haben sich vertieft

So sehr uns Stumme Schwäne vom Zyklus "des Bösen" in der türkischen Geschichte erzählt – "Auf diesem Land liegt ein Fluch", sagt einer der Protagonisten -, so sehr erzählt das Buch auch von der Schönheit der Dinge. Die Entschiedenheit der Kinder, gemeinsam die Schwäne zu retten, steht für die Menschen in der Türkei, die Widerstand leisten und Schönes bewahren wollen. "Auch Widerstand ist wiederkehrend. Selbst wenn es in der Türkei derzeit kaum danach aussieht", sagt Ece Temelkuran. Ein leises Zittern ist in ihrer Stimme zu hören. Deutlich hörbar wird es, als wir über die bevorstehende Abstimmung über das Präsidialsystem sprechen. "Natürlich bin ich für ein Nein." Und dass die Regierung das auch friedlich akzeptieren würde, wie hoch sind die Chancen dazu? "Sehr gering", sagt die Autorin. Ganz gleich wie das Referendum ausgeht, Temelkuran zufolge hat die Türkei noch einen langen Weg vor sich. "Auch die AKP hat eine eigene Generation erzogen, die keine Fragen stellt und nicht eigenständig denken kann." Zudem sei die Gesellschaft aufs Äußerste gespalten – in die Lager "Pro-Regierung" und "alle anderen". Die Gräben hätten sich seit dem Putschversuch 2016 vertieft: "Wir brauchen einen langwierigen Versöhnungsprozess. Ich weiß aber nicht, wie wir das schaffen sollen", sagt Temelkuran.

Inmitten dieser aufreibenden Verhältnisse ist es schwer, sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Die Autorin hat deshalb im Oktober ihren Wohnort vorläufig von Istanbul nach Zagreb verlegt. Die Unberechenbarkeit der Regierung setzt die Menschen unter psychischen Druck: "Bei meiner letzten Einreise in die Türkei schaute die Beamtin am Flughafen lange meinen Pass an, dann mich, dann wieder den Pass. Ich dachte mir: Jetzt verhaften sie dich!" Doch die Beamtin hat gekreischt: "Ece Temelkuran, Sie sind es! Können wir ein Selfie machen?" Temelkuran hat nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen soll. "Die Menschen in der Türkei erleben täglich den Wahnsinn zwischen den Extremen." Ihre vorläufige Bleibe in Zagreb will sie nicht als Exil bezeichnen, sondern als Rückzugsort. "Istanbul bleibt mein Zuhause, trotz allem." (Tugba Ayaz, 15.4.2017)