Collage: Fatih Aydogdu

In manchen Momenten überkommt József die Wut. Dann würde er sein Geld am liebsten "aus diesen Betrügern rausprügeln", sagt er. Aber dann besinnt er sich. Es muss andere Wege geben. József ist 54 Jahre alt. Er kommt aus einem kleinen Dorf in Südungarn unweit der serbischen Grenze. Seit 30 Jahren schlägt er sich als Bauarbeiter durch. Er arbeitet einmal als Maurer, dann als Zimmermann. "Ich mache alles", sagt József. In Ungarn, Serbien, Deutschland. Zuletzt arbeitete er in Österreich. Dort fingen seine Probleme an.

Ein Freund hatte vor einem Jahr angerufen und ihm von einer Baufirma erzählt, die Leute in Wien sucht. In Serbien verdiente er am Bau bis zu 400 Euro im Monat. In Ungarn bis zu 700. In Österreich sollten es 1600 Euro sein. József sagte zu. Im Juni kam er nach Wien. Er arbeitete auf mehreren Baustellen, legte Ziegel für ein Einfamilienhaus aufeinander, erledigte Abbrucharbeiten.

Angemeldet in Slowenien

Angemeldet war József bei einer slowenischen Baufirma. Nachdem er seinen Lohn zunächst pünktlich erhalten hatte, störte ihn das nicht weiter, wie er erzählt. Doch dann bekam er plötzlich weniger ausbezahlt als vereinbart. Die letzten beiden Arbeitsmonate vor der Winterpause erhielt er gar kein Geld. Er wurde vertröstet, vereinbarte Treffen zur Geldübergabe wurden abgesagt. Dann meldete sich unter der Nummer seines Arbeitgebers niemand.

Mehr als 3000 Euro Lohn plus Urlaubsgeld schulden sie ihm nun. Bei zwei Handvoll seiner Kollegen soll es genauso abgelaufen sein.

József sieht sich als Opfer eines Entsendeunternehmens. Das sind Betriebe, die ihre Mitarbeiter nach EU-weit vorgegebenen Regeln ins Ausland schicken, um dort für eine bestimmte Zeit zu arbeiten. Die Menschen kommen als Kellner, Verkäufer, Köche und besonders häufig als Bauarbeiter.

Gemessen an der Einwohnerzahl kommen nach Österreich und Belgien europaweit die meisten entsendeten Arbeitnehmer. Weil vor allem aus Osteuropa, aus Slowenien, Polen, Ungarn und der Slowakei, Arbeitnehmer geschickt werden, ist das Thema zum Politikum geworden.

Nicht wie andere Branchen

SPÖ und FPÖ sprechen von Lohndumping, die Gewerkschaft geißelt die Billigkonkurrenz aus dem Osten, die den heimischen Arbeitsmarkt schädige und den Bausektor kaputtmache.

Der STANDARD hat mit Bauarbeitern, Unternehmern, Gewerkschaftern, Finanzpolizisten, Entsendefirmen und Steuerberatern gesprochen um herauszufinden, was an diesen Vorwürfen dran ist. Alle zeichnen ein ähnliches Bild: Den Bau dürfe man sich nicht wie andere Branchen vorstellen. Die Fluktuation der Arbeitnehmer ist hoch, Arbeitsverhältnisse kommen oft spontan zustande und sind nicht so langlebig wie in Bürojobs und in der Industrie.

Auch mit der Gesetzestreue so mancher Unternehmen ist es im Bauwesen nicht immer sehr weit her. Doch bei Entsendebetrieben dürften Regelverstöße eklatanter sein und häufiger vorkommen. Eine effektive Kontrolle, ob Gesetze und Bestimmungen eingehalten werden, ist unmöglich.

Das Ziel der EU-Vorgaben war, einen freien Dienstleistungsverkehr zu schaffen. Dabei sollte ein Lohnwettbewerb nach unten verhindert werden, bei dem Arbeitnehmer ausgenutzt werden. Aber Erzählungen wie jene Józsefs legen nahe, dass Letzteres nicht gelingt. Leidtragende sind Arbeiter aus Osteuropa.

Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Für nach Österreich entsandte Bauarbeiter gelten die hiesigen Kollektivverträge. Wenn eine slowakische Firma Leute nach Österreich schickt, darf sie Mindestlöhne nicht unterschreiten. Je nachdem, ob jemand als Maurer, Maler oder Hilfskraft tätig ist, ist ihm mehr oder weniger zu bezahlen.

Zahlreiche Tricks am Bau

Um dieser Vorgabe zu entgehen, bedienen sich Entsendeunternehmen zahlreicher Tricks, heißt es. Zu den am häufigsten erzählten Geschichten am Bau gehört, dass entsendete Arbeitnehmer ihren Lohn zunächst korrekt überwiesen bekommen. Die Lohnverrechnung stimmt also für den Fall, dass Kontrolleure in Österreich kommen.

Doch später müssen die Bauarbeiter einen Teil des Geldes bar zurückzahlen. So war es auch bei József. Er musste nach eigenen Angaben für einen Schlafplatz, József sagt dazu "Rattenloch", zahlen, den ihm sein Arbeitgeber zur Verfügung stellte. Ein Vorgang, der laut Kollektivvertrag so nicht erlaubt ist.

Oft erzählt wird auch die Geschichte, wonach Bauarbeiter Vollzeit arbeiten, aber nur für wenige Stunden angemeldet werden. Oder ein Facharbeiter wird als Hilfskraft eingestuft und bezahlt.

Wie umfassend und systematisch solche Regelverstöße sind, lässt sich nicht nachprüfen. Für viele Experten zählt das zu den Kernproblemen bei Entsendungen. Die Kontrolleure der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse (Buak), der Finanzpolizei und die Gebietskrankenkassen inspizieren zwar regelmäßig Baustellen. Sie sehen nach, ob die Arbeiter wirklich jene Arbeit verrichten, für die sie angemeldet sind.

"Doch das sind punktuelle Überprüfungen im Inland", sagt ein Kontrolleur. Das System ist nicht dafür geschaffen worden, ein europaweites Phänomen zu überwachen. "Ob ein Unternehmer den einmal ausbezahlten Lohn im Ausland zurückfordert, ist für Österreichs Behörden nicht überprüfbar", so der Kontrolleur.

Angst vor Jobverlust

Betroffene, denen Lohn abgeknöpft wird, dürften sich zudem nur selten beklagen. Ein Arbeitnehmer verdient in der Regel in Österreich mehr als in Ungarn oder Polen. Wer sich beschwert, dem droht Jobverlust.

An dieser Stelle würde man gern wissen, wie Entsendebetriebe die Vorgänge beurteilen. Der STANDARD kontaktierte eine Reihe von Unternehmen im Ausland. Keines will mit Journalisten sprechen, manche Firmen sagen Treffen zu, dann kurzfristig wieder ab. Der Geschäftsführer einer großen ungarischen Personalvermittlungsfirma willigt schließlich in ein Treffen in Györ unter der Bedingung ein, dass sein Name nicht in der Zeitung aufscheint.

Der Geschäftsführer, der seine Gäste in einem kahlen Konferenzzimmer empfängt, erzählt eine interessante Geschichte. Sein Unternehmen ist auf die Vermittlung von Arbeitskräften im In- und Ausland spezialisiert. Die Firma habe versucht, im Bausektor Fuß zu fassen. Man habe Baufirmen in Österreich, die Mitarbeiter für große Projekte gesucht haben, Leihpersonal angeboten.

Finger weg vom Bau

Keinen einzigen Zuschlag habe man erhalten. Die Konkurrenten waren immer billiger. Um das Geld, das seinem Unternehmen als marktübliche Entlohnung geboten wurde, ließen sich die Arbeiten schlicht nicht legal erledigen. Daher lasse man vom Baugewerbe die Finger.

Dabei sind es nicht nur Lohnausgaben, die sich Entsendefirmen ersparen können, wie Recherchen zeigen.

Bauunternehmen müssen in Österreich zugunsten ihrer Arbeitnehmer Beiträge in die Buak einzahlen. Die Buak zahlt dann Arbeitern Urlaubsgeld aus. Inländische Betriebe zahlten im vergangenen Jahr ihre vorgeschriebenen Beiträge zu 98 bis 99 Prozent. Bei ausländischen Firmen, die in Österreich tätig waren, lag diese Quote bei 53 Prozent.

Das heißt nicht, dass jeder zweite Entsendebetrieb bewusst Regeln verletzt. Manche Betriebe werden einfach nichts von ihren Pflichten in Österreich wissen. Doch die Statistik zeigt, dass die Zahlungsmoral bei vielen Firmen nicht die beste sein dürfte. Um das Urlaubsgeld gebracht werden in diesen Fällen die ausländischen Arbeitnehmer.

Niedrigere Sozialversicherungssätze

Dass Entsendefirmen billiger sind als die österreichische Konkurrenz, dafür gibt es noch einen wesentlichen Grund: die Sozialversicherung. Für die Dauer von zwei Jahren können entsandte Arbeitnehmer in ihrem Heimatland sozialversichert bleiben. Die Gewerkschaft ortet hier eines der großen Probleme: Die Sozialversicherungssätze sind in Slowenien und Polen niedriger als in Österreich. Eine Baufirma aus Warschau kommen Arbeiter also billiger. Doch in der Realität dürften die Probleme tiefer reichen.

Um zu belegen, dass ein nach Österreich entsandter Mitarbeiter in Polen oder Ungarn sozialversichert ist, müssen Unternehmer ein spezielles Formular (A1) vorweisen. Das wird kontrolliert. Es gibt sogar ein Verfahren, bei dem Österreichs Behörden im Ausland nachfragen können, ob die A1-Formulare authentisch sind. Doch kein Mensch kann nachprüfen, mit welchem Lohn der ausländische Arbeiter bei der Versicherung gemeldet ist.

Sparen bei der Versicherung

In Ungarn werden Arbeitnehmer in der Regel nur mit dem viel niedrigeren Satz des ungarischen Mindestlohns bei der Sozialversicherung gemeldet, erzählt die Budapester Steuerberaterin Edit Véha. Die Entsendefirma zahlt also nur für einen Bruchteil des Lohnes Versicherungsbeiträge. Das sei zwar gegen das Gesetz. Die ungarischen Sozialversicherungen hätten aber "keine Kapazitäten", um das nachzuprüfen. Solche Geschichten gibt es auch aus der Slowakei und Slowenien.

Der Betrug mit den Sozialversicherungen sei nur schwer einzudämmen, sagt ein Wiener Finanzpolizist. Österreichs Behörden könnten theoretisch prüfen, welche Versicherungsbeträge eine Firma im Ausland für entsendete Arbeiter bezahlt. Auch die ausländische Versicherung könnte in Österreich nachfragen – und so höhere Beiträge generieren. Aber dafür fehlen derzeit Regelungen.

Was den Kampf gegen illegale Lohnpraktiken betrifft, ist Bewegung in die Sache gekommen. 2017 ist im Lohn- und Sozialdumpinggesetz eine Verschärfung in Kraft getreten. Eine Auftraggeberhaftung wurde eingeführt. Beauftragt ein Bauunternehmen eine Subfirma mit Arbeiten, dann haftet der Auftraggeber dafür, dass die Subfirma die grenzüberschreitend eingesetzten Arbeitnehmer korrekt bezahlt.

Praxistest kommt erst

"Wie praxistauglich diese Regelung ist, muss sich weisen", sagt die Juristin Andrea Ebner-Pfeifer von der Arbeiterkammer Wien. Um ihren nichtbezahlten Lohn einzufordern, müssen sich Arbeitnehmer bei der Buak melden. Sie sind dabei weitgehend auf sich allein gestellt. Die wenigsten sprechen die Sprache gut genug. Sie sind nicht organisiert. Eine hohe Hürde. Bisher ist noch kein Fall beim Arbeits- und Sozialgericht anhängig, sagt Ebner-Pfeifer.

Ein weiteres ungelöstes Problem sind Scheinentsendungen. Die Idee hinter den EU-Regelungen ist, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter aus dem Ausland entsenden dürfen. Doch oft läuft es anders, sagt Ebner-Pfeifer. Eine Firma sucht Bauarbeiter in Österreich und meldet sie dann in Slowenien oder Ungarn an.

Wie schwer überblickbar das Thema ist, zeigt, dass es kaum verlässliche Zahlen gibt. Firmen, die aus dem Ausland Mitarbeiter schicken, müssen dies dem Finanzamt online melden. Demnach gab es im Vorjahr 170.000 Entsendungen nach Österreich, ein Viertel mehr als 2015. Die FPÖ sieht das als Beleg für einen Ansturm.

Doch es kommt vor, dass Unternehmen mehrmals melden – zuerst 30 Arbeitnehmer, dann nochmals 20, etwa weil der Auftrag kleiner geworden ist. Dies wird nicht systematisch korrigiert – die Statistik könnte die Zahlen höher angeben, als sie sind. Etwa 5000 entsandte Arbeitnehmer gibt es offiziell auf Österreichs Baustellen im Monat, heißt es bei der Buak.

Von deren Arbeit profitieren nicht nur ausländische Entsendebetriebe, erzählt man sich unter der Hand am Bau. Die österreichischen Auftraggeber und die österreichischen Bauunternehmen seien ebenso Nutznießer.

Nicht sozialversichert

Beim STANDARD meldete sich schließlich der Geschäftsführer der slowenische Firma IGNS Center. Er hatte József beschäftigt und gehört, dass Fragen über sein Unternehmen gestellt werden. Der Mann gibt an, József und den Kollegen möglicherweise etwas Geld zu schulden – aber weit weniger, als diese behaupten. Er hätte Quartiere für die Bauarbeiter organisiert und sei dafür von ihnen nicht bezahlt worden. Er werde seine Lohnunterlagen prüfen – und etwaige Rückstände begleichen. Seine Firma arbeite stets korrekt.

József ist in Österreich geblieben, er will es noch mal am Bau versuchen. Zunächst muss aber sein Fuß heilen, den er sich bei einem privaten Unfall gebrochen hat. Die Behandlungen musste er selbst bezahlen, da er in Österreich nicht sozialversichert ist. (András Szigetvari, 15.4.2017)