STANDARD: Zwei Pfarrer, zwei Generationen: Der eine wurde 1959 zum Priester geweiht, der andere 2011. Was ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen Pfarrersein heute und damals?

Nikel: Der Pfarrer spielt heute überhaupt keine Rolle mehr – also gesellschaftlich. Was er als Persönlichkeit macht, das zählt schon. So erlebe ich das.

Rihs: Es geht in diese Richtung.

Nikel: Vielleicht am Land noch. Da ist der Herr Pfarrer schon noch ein bisserl wie früher, aber nicht wirklich. Jeder macht, was er will.

Pfarrer Lukas Rihs (li.) und der pensionierte Pfarrer Hugo Nikel im Garten des Pfarrhofes.
hendrich

STANDARD: Die Gesellschaft ist egoistischer geworden?

Nikel: Bei vielen Menschen dreht sich alles nurmehr um das "Ich". Aber es gibt auch andere. Denken Sie an die Ärzte ohne Grenzen. Das sind eher die Ausnahmen,

Rihs: Das hat jetzt nicht nur mit der Kirche zu tun, es ist überall so: Manche unserer freiwilligen Feuerwehren zum Beispiel kämpfen ums Überleben, weil der Nachwuchs fehlt. Man hat so viel anderes zu tun, ein Leben nach Lust und Laune genügt.

Nikel: Viele glauben, dass sie nach dem Lustprinzip leben können.

STANDARD: Ist das frustrierend, wenn man nicht mehr als gesellschaftlich wichtig gilt?

Rihs: Für mich persönlich nicht. Das ist wohl Charaktersache. Bei Festen soll ich immer bei der Politik sitzen, in der Ehrenreihe. Da verdrücke ich mich manchmal und gehe unter die Leut. Aber ganz dagegen verwehre ich mich nicht. Es ist ja auch durchaus schön und eine Wertschätzung des Glaubens. Der Pfarrer darf vorne sitzen.

STANDARD: Jetzt wird gerade Ostern begangen – wissen die Menschen noch, was da gefeiert wird?

Rihs: Manche wissen schon, dass es hier um die Auferstehung geht. Viele aber denken nur an Geschenke!

Nikel: Ein Kollege spricht von der europäischen Schrumpfkirche. Wenn ein Jugendlicher am Sonntag in einer Messe ist, dann ist das ein richtiges Wunder! Ostern ist für viele Menschen eine Urlaubszeit. Man kann nichts mehr voraussetzen.

Rihs: Abmelden vom Religionsunterricht ist schön und gut, aber was dann? Wenn die Kirche hier nicht zum Zug kommt, Kindern und Erwachsenen menschliche Werte zu vermitteln, ist das zu akzeptieren. Aber wer macht das dann? Dann muss der Staat sich selbst kümmern und einen Ersatz stellen: Ein Ethikunterricht wäre als verpflichtender Ersatz gut.

Früher waren mehr Jugendliche in der Kirche, erzählt der 82-Jährige seinem 38-Jährigen Kollegen.
hendrich

STANDARD: Predigt man vor leeren Bänken und nur alten Menschen?

Nikel: Früher waren immer wieder Jugendliche da. G'steckt voll waren die Kirchen nie. Aber es war lebendig und die Menschen haben mitgetan.

Rihs: Ich bin mir nicht sicher, ob volle Kirchen normal waren. Ich bin kein Kirchenhistoriker. Wie war das früher im 19. Jahrhundert? Ich habe keine Ahnung.

Nikel: Zur Kriegszeit kann ich es sagen: Da waren die Kirchen voll. Ich glaube, man kann vereinfacht formuliert sagen: Mit dem Anstieg des Wohlstandes gingen die Leute weniger in die Kirchen. Die Selbsterlösung des Menschen ist gestiegen. Ich mache alles selbst, ich brauche Gott nicht.

STANDARD: Gehen die Menschen also gar nicht mehr zum Pfarrer?

Nikel: Heute kommt die ältere Generation, die leidet, weil die Kinder nicht mehr in die Kirche gehen. Das sind die Omas und Opas, die darunter sehr leiden. Das schmerzt, weil man ja nichts sagen kann, was sie tun sollen.

Rihs: Ich komme aus der Generation, die hinterfragt. Aber ich erlebe das als eine sehr positive Entwicklung: Wir Christen werden zwar immer weniger, aber jene, die den Glauben leben, wissen, was sie tun. Auch die Kinder bei mir wollen wissen, warum. Zum Beispiel die Zehn Gebote: Was passiert, wenn ich lüge? Welche Folgewirkung hat das? "Das ist halt so" spielt es nicht mehr. Aus der Treue, aus einem Traditionschristentum heraus kann auch ein tiefer Glaube entwachsen, das mag ich gar nicht in Abrede stellen. Das funktioniert heute eher nicht.

STANDARD: Warum sind Sie Priester geworden?

Nikel: Das war damals nach dem Krieg, wir waren in Kirchberg an der Pielach zu Hause. Ich bin mit einem Theologiestudenten und einer Theologiestudentin zum Pfarrhof hinaufgegangen. Da haben mich beide gefragt, welchen Beruf ich erlernen will: Zugführer war meine Antwort – wohl typisch für einen Zehnjährigen. Darauf sagte der Student: "Du solltest Priester werden." Warum, weiß ich nicht. Aber beim Abendgebet war es für mich dann klar, dass ich Priester werde – und daran hat sich nichts mehr geändert.

Rihs: Ich bin zuallererst einmal Christ geworden. Ich bin in Mödling aufgewachsen, und bei uns hat der Gottesdienst am Sonntag dazugehört. Das war meinen Eltern wichtig. Mit der Firmung fliegen bekanntlich die Vogerln davon. Das war bei mir auch so. Ich habe erst während des Physikstudiums in Wien Anschluss an den Glauben bekommen. Ich bin wieder in die Kirche gegangen, habe Kontakt zur Pfarre gesucht, aber bemerkt, dass das nicht die Intensität hat, die ich mir gewünscht hatte. Dann habe ich mich für das Priesteramt entschieden.

"Ich war im Knabenseminar, und dann kam das Priesterseminar. Das war alles irgendwie vorgegeben", sagt Hugo Nikel.
hendrich

STANDARD: Ist der Zugang zum Priestertum ein anderer?

Nikel: Es ist wirklich anders. Ich wurde 1935 geboren und bin noch den klassischen Weg gegangen: Ich war im Knabenseminar, und dann kam das Priesterseminar. Das war alles irgendwie vorgegeben. Viele Fragen sind offengeblieben und haben sich dann erst herauskristallisiert. Heute treten Männer ins Priesterseminar, die schon wissen, was sie dort wollen. Die Eintretenden sind ja auch viel älter.

Rihs: Und es sind weniger. Diejenigen, die direkt nach der Matura kommen, sind die Minderheit. Was auch nicht schlecht ist.

STANDARD: Hat sich das Verhältnis zur Obrigkeit auch geändert?

Nikel: In der Ära von Kardinal Franz König war das schon anders. So auf Augenhöhe wie mit dem jetzigen Kardinal Christoph Schönborn, das ist eine ganz andere Ebene. Bei König war noch dieses: "Da kommt der Bischof."

Rihs: Der derzeitige Kardinal bietet gleich das Du-Wort an. Da hat sich viel verändert.

STANDARD: Gemein gesagt muss er auch netter sein, weil es weniger Priesteranwärter gibt.

Rihs: Oder er kann sich mehr um den Einzelnen kümmern. Ich glaube, dass sich das Denken gewandelt hat. Dass man sich kümmern muss, wenn man will, dass sie sich auch kümmern.

STANDARD: Ist das Ihre erste Pfarre?

Rihs: Ja, als Pfarrer. Wir zwei leben hier in einer Art Priestergemeinschaft. Elf Pfarren, vier Priester.

Nikel: Ich mache auch noch viel.

Rihs: Ja. Er ist hochaktiv!

STANDARD: Die Präsenz im Ort wird aber geringer, oder?

Rihs: Ich kenne das nicht anders. Gemütlich, wie es einmal vielleicht war, ist es nicht. Wir sind schon ausgelastet.

Nikel: Es ist nicht so, dass wir hier einen Plan machen und dann schwärmen wir aus. Hier betreut jeder seine Pfarren.

STANDARD: Und es gibt für Sie einen Rückzugsort.

Rihs: Es ist ein bisschen so wie in der Familie. Sicher willst du von den Kindern einmal eine Ruhe haben. Aber wenn sie dich brauchen, bist du da.

Nikel: Ich habe den Unterschied sehr gewaltig erlebt. Wie ich alleine Pfarrer war, habe ich mich dort zwar zu Hause gefühlt. Aber abends sind die Pfarrgemeinderäte heimgegangen. Und ich war alleine. Dann bin ich hierher gekommen und lebe auf engen Raum mit anderen Menschen zusammen. Da sind Welten dazwischen.

"Was nicht geht, ist die Gemeinde in gute und böse Menschen einzuteilen", findet Lukas Rihs.
hendrich

STANDARD: Worauf muss man bei der Arbeit in den Pfarrgemeinden besonders achten?

Rihs: Ein No-Go? Was nicht geht, ist die Gemeinde in gute und böse Menschen einzuteilen. Wenn mich jemand nach einer Messe anfährt, weil irgendwas nicht gepasst hat, hat er dennoch am nächsten Morgen dasselbe Anrecht, von mir betreut zu werden. Das verlangt ...

Nikel: ... Barmherzigkeit ...

Rihs: Dass einem manche Menschen sympathischer sind als andere, mag sein, aber es ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten wollen. Wobei ich auch sagen muss: Vor zehn Jahren hätte ich das noch nicht geschafft. Da muss man Gelassenheit entwickeln, man muss schlichtweg vergeben können.

Nikel: Auf das Gericht verzichten.

STANDARD: Was machen Sie, wenn Sie nicht Priester sind?

Nikel: Mein Hobby war immer der Garten. Das kann ich aber nicht mehr. Die Blattpflanzen im Haus mache ich schon noch.

Rihs: Es wird zum Palmenhaus.

Nikel: Ich bete und lese viel.

Rihs: Ich bin in der Gemeinschaft der Nachfolge Jesu, und wir haben 15 Kilometer entfernt ein Haus, so eine Art Bauerhof. Es geht in Richtung Selbsterhalter. Dort arbeite ich gerne in der Landwirtschaft unserer Gemeinschaft und mache gerne Sport.

Nikel: Was ist heute? Hoppla, richtig, ich muss auch noch bügeln. (Peter Mayr, 16.4.2017)