Das Referendum zur Schaffung des auf Recep Tayyip Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems wird das Verhältnis der Türkei zur EU – wieder einmal – neu definieren. Wie immer es ausgeht: Es bedarf nach jahrelangen Spannungen und der Eskalation seit dem gescheiterten Putsch einer Klärung, ob das Land Beitrittskandidat bleibt.

Jenseits unakzeptabler Naziverunglimpfungen durch Erdogan und Co gegen Deutschland und die Niederlande hat die Venedig-Kommission des Europarates in der Sache klar die Gründe dafür benannt: Ein "Ein-Personen-Regime", ein "autoritäres Präsidialsystem" drohe, in dem die in Demokratien wesentlichen "Checks and Balances" von Exekutive, Parlament und Justiz aufgehoben werden können.

Also ein "gefährlicher Rückschlag für die Demokratie". Demnach hat die EU nur zwei Möglichkeiten. Lehnen die Türken die neue Verfassung ab, was eine riesige positive Überraschung wäre, könnte Brüssel den Beitrittsstatus bestätigen und bis zur Klärung der innertürkischen Verhältnisse auf Zeit spielen. Erdogan stünde als Verlierer da. Wahrscheinlich ginge dann der Machtkampf in Ankara erst richtig los. Das brächte aber die Chance, dass wieder EU-zugewandtere Politiker an die Macht gelangen.

Formelle Infragestellung

Stimmen die Türken für Erdogan, was wahrscheinlich ist, wird der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten nichts anderes übrigbleiben, als das Land als Beitrittskandidaten auch formell infrage zu stellen. Das würde dauern. Die Kommission müsste erst einen juristisch wasserdichten Bericht erstellen. Um die Verhandlungen abzubrechen, braucht es Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten. Aber spätestens wenn Erdogan seine Pläne umsetzt, die Todesstrafe einzuführen, und die Opposition weiter im Gefängnis hält, wäre es vorbei mit dem Beitrittsprozess.

Das alles trifft die Union in einer ungünstigen Phase. Im Mai beginnen die Verhandlungen zum britischen EU-Austritt, ebenfalls Neuland. Eine Brexit-Vereinbarung muss wegen der vertraglichen Vorgaben binnen zwei Jahren fertig sein, inklusive Ratifizierung. Denn es nahen die Europawahlen im Mai 2019, nach deren Ergebnis das EU-Parlament neu konstituiert und die Kommission neu besetzt werden. Der (Zeit-)Druck ist groß, die Türkei – so wie die Beitrittskandidaten vom Westbalkan – hat derzeit Nachrang.

Denn niemand weiß heute, wie der Brexit gestaltet sein wird, ob die Gemeinschaft der EU-27 in der Form erhalten werden kann, wie wir das seit Jahrzehnten kennen. Daher kann derzeit niemand sagen, welche Art von Beziehung die EU mit der Türkei alternativ ins Auge fassen soll. Zu "Kerneuropa" wird das Land kaum je gehören. Je nachdem, was Erdogan macht, könnte es nicht einmal zur engen Partnerschaft reichen, die die EU mit den Briten aktiv anstrebt. (Thomas Mayer, 15.4.2017)