Der Blogbeitrag "Sind Materialisten böse?" stellte die Frage, wie es kommt, dass wir, von Materialismus und Hedonismus (angeblich) Durchdrungene, diesen unsere Gegenwartskultur (angeblich) durchdringenden Materialismus und Hedonismus ausnahmslos schlecht finden. Und ob es, wie Peter Sloterdijk behauptet, zwischen dem Wohlstand und dem Materialismus auf der einen und dem Desinteresse an politischer Aktion auf der anderen Seite einen Zusammenhang gibt. Genauer: Ob der "aktuelle Konsumismus" den Menschen das "Interesse an Würde" durch "materielle Vergünstigungen"¹ abkaufe, und die von Sloterdijk so genannten "thymotischen Tugenden" – Empörung, Stolz, Zorn, Tapferkeit und Ehrgefühl – verdränge. Tugenden ohne die politisches Engagement, Kampf- und Opferbereitschaft nicht zu haben sind.

Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten

Wenn uns aber materieller Wohlstand unpolitisch machen sollte, müsste uns dann materielles Elend nicht – umgekehrt – politisch aktivieren?

"Eine Industrie", schreibt Theodor W. Adorno, "die ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten" fordere, drohe auch "das Bewusstsein zu deformieren", um dann zu fragen, wie jene "Deformierten" "zur [politischen] Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbsaufopferung"² verlange.

Könnte es also sein, dass materielles Wohlbefinden unser politisches Engagement nicht nur nicht behindert, sondern – im Gegenteil – die Voraussetzung für das Interesse an Politik und politischer Aktion bildet?

In seinen oben zitierten "Reflexionen zur Klassentheorie" räumt Adorno allerdings ein, dass sich der Lebensstandard der Arbeiter "gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren" (er schrieb dies 1942) signifikant verbessert hätte: "Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten [...] Kürzere Arbeitszeit, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters, durchschnittlich höhere Lebensdauer"³.

Schwindende Bestechungssumme

Diese "materiellen Vergütungen" stehen für Adorno in Zusammenhang mit der Entwicklung der "technischen Produktivkräfte" – und des modernen Sozialstaats, dessen Anfänge in Deutschland auf Bismarcks Sozialgesetze zurückgehen, verabschiedet in der dezidierten Absicht, revolutionäre Umtriebe der organisierten Arbeiterschaft zu verhindern.

Adorno schrieb seine "Reflexionen zur Klassentheorie" vor einem Dreivierteljahrhundert. Seither haben sich jene "technischen Produktivkräfte" natürlich weiterentwickelt – und der Sozialstaat wurde bis in die 1970er-Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Systemkonkurrenz zwischen den kapitalistischen und den sogenannten realsozialistischen Staaten, weiter ausgebaut. Dann allerdings setzte ein Prozess der schrittweisen Rücknahme von Sozialleistungen ein, der in Deutschland, spätestens nach dem Fall der Mauer, in einen regelrechten Sozialabbau mündete und seinen augenfälligsten Ausdruck im Workfare-Programm Hartz IV fand: der "Abkehr vom sozialstaatlichen Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung."⁴

Das bedeutet zwar keinen Rückfall in "englische Zustände" des 19. Jahrhunderts. Dieser seit Jahrzehnten anhaltende Sozialabbau entzieht aber der These Sloterdijks, wir – bestechliche Hedonisten – hätten uns die für den politischen Kampf unabdingbaren "thymotischen Tugenden" – Ambition, Ehre, Würde und Stolz – durch "materielle Vergünstigungen" abkaufen lassen, die Grundlage.

Folgen wir Sloterdijks Argumentation, hätte unser Interesse an politischer Aktion angesichts einer seit den 1970er-Jahren schwindenden "Bestechungssumme" (sprich: des Abbaus von Sozialleistungen) doch eher zunehmen als schwinden müssen.

An unserem Selbstbild als Materialisten und Hedonisten sind also Zweifel gestattet.

"Mehr als ein Begrüßungskuss"

Wenn wir "Hedonismus" sagen und an "Lust" denken, fällt uns zu allererst sexuelle Lust ein, als stimmten wir intuitiv mit der Ethik des Aristipp von Kyrene, des Begründers des philosophischen Hedonismus (hedoné ist das altgriechische Wort für Lust) und übrigens auch mit jener der Psychoanalyse überein, wonach sexuelle Lust die Grundlage jeder Lust – und darüber hinaus die Voraussetzung eines geglückten Lebens bildet. Ob unsere Gegenwartskultur "hedonistisch" ist oder nicht, müsste sich demnach am besten an ihrem Verhältnis zur Sexualität festmachen lassen.

Kuss-Demo vor dem Cafè Prückel 2015.
Foto: standard/heribert corn, http://www.corn.at

Im Januar 2015 kam es im Wiener Café "Prückel" zur folgenden Episode: Ein lesbisches Paar, das wegen eines Begrüßungskusses vom Kellner ermahnt worden war, und sich daraufhin bei der Chefin beschwert hatte, wurde von dieser des Lokals verwiesen. Der Vorfall geriet in die Schlagzeilen, es kam zu einer Protestkundgebung vor dem Café.

Interessieren soll uns nicht die Episode als solche, sondern die Reaktionen darauf. In Internetforen und privaten Diskussionen behaupteten Prückel-Insider, das Paar sei nicht als lesbisches Paar hinausgeworfen worden, was selbstverständlich nicht akzeptabel gewesen wäre. Vielmehr habe es sich bei jenem Kuss um "mehr als um einen Begrüßungskuss" gehandelt. Jedes Paar, auch ein heterosexuelles, das sich im Prückel "derart intensiv" geküsst hätte, wäre des Lokals verwiesen worden.

Auf diese "Aufklärung" reagierten andere Diskussionsteilnehmer nicht selten mit Aussagen wie: "Ach so. Das wäre aber etwas anderes." Oder: "So gesehen, wäre das ja nachvollziehbar" und ähnlichen Aussagen.

In der Haltung, die in Reaktionen wie diesen zum Ausdruck kommt, scheint Intoleranz gegenüber – von der "Norm" – abweichendem sexuellen Verhalten akzeptabel zu sein, sofern sie vor dem Hintergrund der Ablehnung von sexuellem Begehren als solchem stattfindet, oder von "allzu intensivem" sexuellen Begehren. Wobei die Ablehnung der "Sexualität als solcher" – im Unterschied zur ausschließlichen Ablehnung "abweichenden sexuellen Verhaltens" – nicht als problematisch empfunden wird.

Also sind alle queer

Interessanter als die Frage, wie repräsentativ diese Position sein mag, ist die folgende erstaunliche Beobachtung: Dieselbe Tendenz, sexuelles Begehren als solches unsichtbar machen zu wollen, die in der Prückel-Affäre die Intoleranz gegenüber dem Begehren sexueller Minderheiten akzeptabel erschienen ließ – diese selbe Tendenz, ("intensives") sexuelles Begehren aus dem Blickfeld zu verdrängen, wird im größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Debatten über Sexualität – umgekehrt – zur Voraussetzung der Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten.

"Heute", schreibt Tjark Kunstreich "scheint es selbstverständlich, dass queer irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von der Norm zuschreibt. Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer."⁵

Dass queer-Sein heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, auch in konservativ-bürgerlichen Kreisen, zeigte sich augenfällig an der Akzeptanz, die der Kunstfigur Conchita Wurst alias Tom Neuwirth entgegenbracht wurde, die nach ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014, in der Öffentlichkeit Österreichs allgegenwärtig zu sein schien, "auf [...] Plakatwänden, in der TV-Werbung, als Eissorte oder als Weißwurst."

Conchita Wurst ist Symbolfigur einer scheinbaren Toleranz devianter Sexualitäten.
Foto: Apa/Herbert Neubauer

Neuwirth verlangte, die Anerkennung seiner öffentlichen Persona Conchita Wurst als Frau, und Respekt vor dieser seiner Maske. Ein Respekt, der ihr – nach anfänglicher Irritation ob seiner Verkleidung als zierliche Frau mit Bart – auch tatsächlich entgegengebracht wurde.

"Spätestens seit Conchita Wurst ist klar: Die Gesellschaft – selbst die österreichische – scheint, was die Akzeptanz 'devianter' Sexualitäten angeht, besser als ihr Ruf zu sein. Zumindest hat sich etwas getan, denn eine bärtige Frau, die noch dazu schwul ist, hätte es vor zehn oder zwanzig Jahren vermutlich nicht zum Medienstar gebracht."

"Wenn er richtig gemacht wird, schon"

Diesen und zahlreichen ähnlichen Kommentaren wird man kaum widersprechen wollen. Niemanden scheint es aber zu wundern, dass als Symbol der Befreiung der Sexualität eine Kunstfigur gelten soll, die wir mit Sexualität – im Sinn von sexuellem Begehren – auch beim besten Willen nicht in Verbindung zu bringen vermögen. Scheint sie doch in ihrer strahlenden Reinheit und Makellosigkeit – ganz im Gegenteil – für die Befreiung von Sexualität zu stehen.

Als Woody Allen gefragt wurde, ob Sex schmutzig sei, soll er gesagt haben: "Wenn er richtig gemacht wird, schon."

Kann es sein, dass Wurst gerade wegen ihrer Reinheit von sexuellem Begehren zum Symbol der neuen Akzeptanz sexueller Minderheiten werden konnte? Dass hier das Absehen von sexuellem Begehren (im scheinbaren Gegensatz zu der Haltung, die uns in der Prückel-Debatte begegnete) die Voraussetzung der Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten bildet? Nach dem – unausgesprochenen – Motto: Wenn es erst gelingt, das Sexuelle aus der Sexualität auszutreiben, fällt es uns leicht, sexuell abweichendes Verhalten zu tolerieren (weil es dann, ohnehin "Wurst" ist, wie man hinzuzufügen versucht ist).

So gesehen, erscheint Wurst in ihrer strahlenden, dem Leiblichen entrückten Reinheit als Verkörperung einer körperlosen Sexualität ohne Sex. (Sama Maani, 18.4.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt 2006, S. 31 f
² Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 , Frankfurt am Main 2003, S. 384
³ Ebd.
⁴ Hans Otto Rößer, Krieg dem Pöbel. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren
⁵ Tjark Kunstreich, Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, Hamburg 2015, S. 73

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