Wilhelm von Osten war felsenfest davon überzeugt, dass Hans rechnen konnte. Und nicht nur das: Hans vermochte problemlos Buchstaben zu unterscheiden, Farbtafeln zuzuordnen und aus einer Reihe von Zahlenkärtchen ein bestimmtes auszuwählen. So weit, so einfach. Aber Hans war ein Pferd.

Hans im Jahr 1910.
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Als der pensionierte Grundschullehrer Wilhelm von Osten seinen vierbeinigen Begleiter, einen schwarzen Orlow-Traber, im Jahr 1900 erwarb, erkannte er bald dessen Geschick. An einem anderen Pferd, das er zuvor besessen hatte, hatte von Osten bemerkt, dass die Tiere ganz offensichtlich zu komplexeren gedanklichen Leistungen fähig waren, als dies bis dahin bekannt war.

Kaum hatte von Osten den etwa fünfjährigen Hans erworben, begann er mit Trainingseinheiten. Er wollte dem Pferd beibringen, wie es einfache Rechenaufgaben, aber auch anspruchsvolle Kunststücke, die allein auf der Gehirnleistung des Tieres beruhten, durchführen konnte, denn er plante, sein Wundertier der interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Hans sollte rechnen lernen, Buchstaben zu sinnvollen Wörtern verbinden und die Uhrzeit lesen können. Erste Versuche, auch die Öffentlichkeit auf seine Studien aufmerksam werden zu lassen, scheiterten. Erst als von Osten eine Anzeige in einer Tageszeitung geschalten hatte, und ein Angehöriger des Militärs auf von Osten und seine Experimente aufmerksam wurde, fanden sich auch Zuschauer, die den "Klugen Hans" erleben wollten, in Berlin ein. Bald waren von Ostens Vorführungen in aller Munde, und alle wollten das Pferd, das rechnen konnte, sehen.

Der "Kluge Hans" bei einer öffentlichen Vorführung.
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Der Kluge Hans beantwortete Fragen seines Lehrers mit dem Klopfen eines Hufes oder durch Schütteln des Kopfes. Gegenstände abzuzählen oder einfache Rechnungen durchzuführen gelang ihm problemlos. Noch erstaunlicher war jedoch, dass Hans auch abstrakte Problemstellungen scheinbar meisterhaft bewältigte. Eine der Fragen, die von Osten stellte, lautete: "Wenn der erste Tag des Monats auf einen Mittwoch fällt, welches Datum hat der kommende Montag?" Hans stampfte selbstsicher sechs mal mit dem Huf auf. "Wie lautet die Quadratwurzel aus 16?" – Hans nickte vier mal mit dem Kopf. Mit einer "Schreibmaschine" konnte Hans Wörter zusammensetzen und farbige Tafeln nach Nennung einer Farbe korrekt mit seiner Nase anstupsen. Von Osten war felsenfest überzeugt, dass es sich hier um die Bestätigung seiner tiefen Überzeugung handelte: Hans war zu bewussten gedanklichen Handlungen großer Komplexität fähig.

Hans lernt vier plus zwei.
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Hans und seine "Schreibmaschine".
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Hans lernt die Bedeutung von "offen" von seinem Lehrer Wilhelm von Osten.
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"Hans, bück dich zur Zahl Null!"
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Doch in der Welt der Wissenschaft zählt nur die Beweisführung durch unabhängige Experten. Im Jahr 1904 war es soweit: Eine dreizehnköpfige Gruppe von Wissenschaftlern sah sich die erstaunlichen Leistungen des Pferdes an und gelangte zu dem Schluss, dass tatsächlich keinerlei Hilfestellung gegeben worden war. Einen Grund für die außergewöhnlichen kognitiven Leistungen, die der Kluge Hans an den Tag legte, konnten aber auch die Experten nicht angeben. Hans war als Wunderpferd anerkannt.

Hans wird getestet.
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Jetzt berichteten auch die Medien, sogar der New York Times war "Clever Hans" einen Artikel wert. Doch von Ostens Triumph rief natürlich auch Skeptiker auf den Plan, die nicht so recht an die außergewöhnlichen Leistungen des Pferdes glauben wollten und vielmehr Scharlatanerie und Schwindel vermuteten.

Die Entzauberung des Wunderpferdes

Schließlich war es Oskar Pfungst, damals Psychologiestudent und kritischer Beobachter der Vorführungen von Ostens, der die Entzauberung des Klugen Hans in die Wege leitete. Er hielt es für möglich, dass von Osten zwar nicht bewusst dem Pferd Befehle gab, aber unbewusst durch seine Körpersprache auf Hans reagierte. So nahm er an, dass winzige Signale der Erleichterung, nachdem Hans die richtige Zahl mit dem Huf gescharrt hatte, eine kleine Änderung der Körperspannung, eine kaum merkbare Änderung der Mimik des Lehrers, das Tier veranlasste, mit dem Scharren aufzuhören.

In einer zweiten kommissionellen Prüfung des Tieres wurde diese Annahme bestätigt. Hans konnte tatsächlich die richtige Lösung auf Fragen immer dann nicht geben, wenn er den Fragesteller nicht sah, oder wenn dieser die Antwort auf Fragen selber nicht wusste. Damit war Hans enttarnt – er war doch kein außergewöhnliches Rechengenie innerhalb der Pferdefamilie, aber ein ausgesprochen genauer Beobachter.

Hans und Wilhelm von Osten.
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Wilhelm von Osten aber hielt an seiner Theorie, dass Hans eigenständig denken konnte, bis zuletzt fest. Er starb Anfang Juli 1909 an einer Krebserkrankung. Der Kluge Hans gelangte nach von Ostens Tod in den Besitz des Kaufmanns Karl Krall, der weitere Versuche mit ihm durchführte und auch andere Pferde trainierte. Als Ergebnis seiner Versuchsreihen entstand 1912 das Buch "Denkende Tiere". 1916 gab Krall seine Arbeit mit den Tieren schließlich auf.

Hans musste nun seine sicheren Stall verlassen und wurde gemeinsam mit vielen seiner Artgenossen zum Dienst in den ersten Weltkrieg geschickt. In den Wirrnissen des Krieges verliert sich schließlich seine Spur.

Der Kluge-Hans-Effekt

In der Psychologie aber lebt das kluge Tier weiter. Als Kluger-Hans-Effekt bezeichnet man noch heute die unbewusste Beeinflussung des Verhaltens von Versuchstieren. Versuchsleiter müssen bei Tierexperimenten daher ausschließen, dass die eigene Erwartungshaltung das Experiment in die erhoffte Richtung lenkt. (Kurt Tutschek, 27.4.2017)

Bildquelle

  • Alle Fotos aus "Denkende Tiere" von Karl Krall, 1912

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