Trotz einer vergleichsweise mauen Saison hat Alexis Pinturault auch 2016/17 etwas geschafft: Er stellte den alten Medaillenrekord von Jean-Claude Killy aus den 1960er-Jahren ein und gilt seither als einer der erfolgreichsten französischen Skifahrer aller Zeiten.

Foto: Arthur Bertrand

Alexis Pinturault auf den Pisten von Courchevel. Nicht im Bild: der Autor. Er war zu langsam.

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Mit 16 hat sich Pinturault gegen seine erfolgsversprechende Karriere als Fußballer entschieden: "Beim Skifahren siehst du sofort, ob du als Einzelner stark bist. Im Fußball bist du darauf angewiesen, dass andere das erkennen."

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In Courchevel, im luxuriösen Hotel seines Vaters Claude, ist Pinturault aufgewachsen. Mit zwei Jahren stand er zum ersten Mal auf der Piste gleich neben dem Haus.

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Sponsorenstriptease: Das Skitraining in Frankreich erschien Alexis Pinturault zu wenig. Also suchte er weitere Unterstützung in Österreich.

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In 2.659 Meter Höhe schlüpft Alexis Pinturault aus dem Ei. So nennt in Courchevel jeder die altmodischen Gondeln mit den abgerundeten Kanten. Es ist ein makellos sonniger Morgen im April mit glasklarer Sicht auf den Mont Blanc, und die jungfräulichen Pisten werden bis mittags kaum Abnützungserscheinungen aufweisen. Zu verlockend duften die Zitrusblüten der nahen Côte d'Azur, als dass um diese Jahreszeit noch viele zum Skifahren in die französischen Westalpen kämen. Das luxuriöse Retortendorf wird schon in wenigen Tagen alle seine Hotels, Restaurants und Nobelboutiquen dichtmachen und auch zur Wandersaison nicht mehr öffnen. Courchevel bleibt bis zum nächsten Winter eine Geisterstadt.

In Eile nach dem Weltcup

Kaum hat ihr bekanntester Bewohner die eiförmige Aufstiegshilfe verlassen, fährt er ohne sich umzudrehen los. Pinturault, in der Saison 2016/17 zum vierten Mal der erfolgreichste Kombinierer im alpinen Skisport, scheint es auch nach dem Ende der Weltcuprennen noch eilig zu haben. So eilig, dass er sich erst bei voller Fahrt bückt, um die acht Schnallen an beiden Skischuhen endlich zu schließen. Warum diese Hast, Herr Rennläufer?

Pinturault scheint in der vergangenen Saison Zeit liegen gelassen zu haben. Der Franzose steht beim Riesenslalom seit Jahren in direktem Wettbewerb zu Marcel Hirscher. Doch heuer konnte er in dieser Disziplin nur den dritten Gesamtplatz hinter dem Salzburger und seinem Landsmann Mathieu Faivre einfahren. "Der Kampf mit Marcel ist noch real. Aber nur auf der Piste. Privat schätzen wir einander sehr", sagt er beim ersten Halt 500 Höhenmeter tiefer, ohne schwer zu atmen. Ein wenig Eile liegt dennoch in seiner Stimme. Der 26-Jährige, der 2014 in Sotschi olympische Bronze gewann und 2017 in St. Moritz im Mannschaftsbewerb erstmals Gold bei einer WM, sieht auch abseits der Rennen die Zeit davonrinnen.

Auf halber Strecke

Im März 2017 kommt es zwischen Pinturault und dem französischen Skiverband zu einem kleinen Eklat. Der Fahrer mit der schlechtesten Saison seit vier Jahren patzt seinen Verband an. Man könne nicht einfach auf halber Strecke anhalten, wirft er diesem vor und will damit sagen: Das ungenügende Training in Frankreich sei für seine durchwachsene Saison verantwortlich. Um nicht bei voller Fahrt und auf halber Strecke stehenzubleiben, hat er selbst geschaut, wie er weiterkommt.

2014 ließ er sich mit einem Hersteller von Aufputschgetränken in Dosen ein, um besser in Form zu kommen. "Die sind für mich ein wichtiger Partner. Sie unterstützen mich beim Training, oder wenn ich Physiotherapie brauche. Der kleine französische Skiverband kann das nicht. Wir haben nicht die nötigen Mittel." Es liegt kein Groll in seiner Stimme, wenn er das sagt, aber Entschlossenheit. Dazu gesellt sich Kalkül im Blick, wenn er über das zusätzliche Training in Österreich spricht.

Sein österreichischer Sponsor integrierte ihn in das Athletenprojekt von Robert Trenkwalder, dem ehemaligen Abfahrtstrainer der Österreicher. Der hält große Stücke auf Pinturaults Technik, sieht aber Nachholbedarf bei der Fitness. Tatsächlich hat der Franzose eine für eine menschliche Rennmaschine fast schmächtige Statur. Und doch gelang ihm auch heuer Großes: Im Jänner 2017 übertraf Pinturault mit insgesamt 19 Weltcupsiegen den bisherigen Medaillenrekord von Jean-Claude Killy aus den 1960er-Jahren. Pinturault gilt seither als einer der erfolgreichsten französischen Skifahrer aller Zeiten, was er auch dem zusätzlichen Training zuschreibt. Immer öfter verlegt er es nach Taxham in Salzburg und nach Innsbruck.

Kalte Dusche

Übermütig wie ein Teenager lässt Pinturault nach einem Höllenritt den Schnee beim Abschwingen am Sessellift aufstieben. Noch ist keiner außer ihm da, der die kalte Dusche abbekommen könnte. Später sagt er: "In Frankreich fühle ich mich zu Hause. Aber nur in Österreich habe ich die Möglichkeit, während der Saison ein Leben abseits der Pisten zu führen. Ich miete seit kurzem eine kleine Wohnung in Innsbruck. Von dort bin ich fast überall in zwei Stunden. Von Frankreich braucht man mindestens sechs Stunden zu den meisten Austragungsorten." Aus Höflichkeit setzt er nach: "Das alpine Training in Österreich hat zudem einen hervorragenden Ruf."

Ungekünstelte Freundlichkeit zeigt er, wenn er sich daran erinnert, was er in Courchevel ebenso ist: ein einfacher Skilehrer, der für seine Klienten da ist. Oben beim Ausstieg des Sessellifts plagt sich ein kleiner Franzose dabei, seine Ski rechtzeitig auf den Boden zu bekommen. Weder der Bub, dem er hilft, noch dessen dankende Eltern erkennen allerdings in ihm den Skistar, sondern nur eine helfende Hand. Also fragen sie ihn auch noch nach den Namen der Berge im Panorama. Auf einmal scheint Pinturault ganz viel Zeit zu haben. Wie ein Schüler beim Gedichtaufsagen nennt er mit Nachdenkpausen bedächtig einen Gipfel nach dem anderen.

Skifahrer statt Fußballspieler

In einer anderen Zone für Zeitgefühl scheint sich Pinturault auch am Abend im Hotel Annapurna zu bewegen. Hier, in der luxuriösen Herberge seines Vaters Claude, ist er aufgewachsen und mit zwei Jahren zum ersten Mal auf der Piste gleich neben dem Haus gestanden. Vermutlich hier hat er sich mit 16 gegen seine erfolgsversprechende Karriere als Fußballer entschieden: "Beim Skifahren siehst du sofort, ob du als Einzelner stark bist. Im Fußball bist du darauf angewiesen, dass andere das erkennen." Und hier, an der Hotelbar, lehnt er nun todlässig und scheint alle Zeit der Welt zu haben, wenn er über Romane Faraut spricht.

Im Dezember 2016 machte er seine Freundin Romane zur Pressesprecherin. "Hätte ich das nicht getan, würde ich sie den ganzen Winter nicht sehen. Und ihr ging es auch schon auf die Nerven, so viel Zeit in den französischen Alpen zu verbringen." Nur kurz wirft Pinturault einen Blick auf seine Uhr, als er das sagt – wohl auch aus Höflichkeit. Der Vertreter einer Schweizer Uhrenmarke hat ihm die Maßanfertigung gerade angelegt. Sie ist ein paar Gramm leichter, dafür ein paar tausend Euro teurer als die erste, die für ihn angefertigt wurde. Dann sagt Pinuturault noch: "Im September ist es soweit." Dann wollen sich Faraut und er eine ganz besondere Zeit in ihrem Leben gönnen: die Hochzeit. (Sascha Aumüller, RONDO, 6.5.2017)