Anders als in der Schweiz, wo das Lager der Erdoğan-Befürworter nur 38 Prozent erreichte, kämen die meisten türkischen Migranten zwischen Vorarlberg und Wien aus Zentralanatolien, erklärt Soziologe Güngör.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Angesichts der womöglich zehntausenden österreichisch-türkischen Doppelstaatsbürger im Land spricht der Soziologe Kenan Güngör von einem "verzerrten Bild", das das hiesige Votum für das umstrittene Präsidialsystem von Tayyip Erdoğan liefere. Denn wenn man die Dunkelziffer der Türkischstämmigen mit zwei Pässen hinzurechne, habe deutlich weniger als die Hälfte der Community von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Laut Integrationsfonds waren hierzulande 108.500 Türken für die Abstimmung registriert. Gemäß Ankaras amtlicher Nachrichtenagentur Anadolu votierten in Österreich 38.215 Stimmberechtigte (fast drei Viertel) für Erdoğans neues System und nur 13.972 (ein Viertel) dagegen. "Der weit überwiegende Teil ist also nicht hingegangen", ist Güngör überzeugt – und damit habe Erdoğans AKP trotz enormen Aufwands die Auslandstürken nicht wie gewünscht mobilisieren können.

Anders als in der Schweiz, wo das Lager der Erdoğan-Befürworter nur 38 Prozent erreichte, kämen die meisten türkischen Migranten zwischen Vorarlberg und Wien aus Zentralanatolien, erklärt der Experte. Bei den Eidgenossen gäbe es eine größere Community, die kurdisch-alevitisch geprägt ist.

Die hiesige Politik müsse sich nun fragen, ob hinter dem Abstimmungsverhalten "eine tief antidemokratische Haltung" stecke oder ob Erdoğan als "charismatische Führerfigur" dafür den Ausschlag gegeben hat – "und beides" hält Güngör für "bedenklich". Seine Empfehlung: Österreich solle für seine Migranten auf der Grundlage eines inklusiven "Wir-Gefühls" offene und kritische Diskurse führen – und ein selbstkritischer Diskurs wäre auch innerhalb der Community gefragt.

Blick in die Statistik

Eine Zahl sagt mehr als tausend Worte: Mit rund 20 Prozent ist die Arbeitslosigkeit unter in Österreich lebenden Türken nicht nur doppelt so hoch wie jene der Einheimischen, sie liegt weit über der Rate der aus anderen Regionen stammenden Migranten. In einer vor kurzem vorgestellten Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts wurde ein Blick auf die Integration der Zuwanderer geworfen, und das bringt bei türkischen Staatsbürgern – klarerweise in der Durchschnittsbetrachtung – ein vernichtendes Ergebnis: schlechte Bildung, geringe soziale Mobilität und hohe Arbeitslosigkeit.

Letzter Punkt wird anhand eines Vergleichs mit Migranten aus anderen Ländern deutlich. Während die Beschäftigungsquote von Zuwanderern um sieben Prozentpunkte unter jener der Österreicher liegt, macht der Abstand bei Türken 21 Prozentpunkte aus. Das liegt auch an der geringen Beschäftigung von Frauen: Laut Statistik Austria sind 42 Prozent der Türkinnen berufstätig, bei Österreicherinnen liegt die Rate bei 70 Prozent.

Doch was sind die Gründe für die schlechte Eingliederung am Arbeitsmarkt? Das Wifo hat keine einfache Antwort parat. Es wird auf einen Mix an Problemen verwiesen. Das schlechtere Ausbildungsniveau und bescheidene Sprachkenntnisse stehen dabei im Zentrum. Fast zwei Drittel der in der Türkei geborenen und in Österreich lebenden Personen verfügen nur über einen Pflichtschulabschluss – bei allen Migranten zusammen liegt dieser Anteil nur bei 28,7 Prozent. (Andreas Schnauder, Nina Weißensteiner, 18.4.2017)