Die Analysen der Gender-Studies darüber, wo überall politische Motive am Werk sind, stoßen auf Widerstand. Für die Genderforscherin Sabine Grenz ist dies auch ein Grund für die massive Kritik an den Gender-Studies.

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STANDARD: Nur wenige Fächer sind mit so vielen Vorurteilen konfrontiert wie die Gender-Studies. Wie würden Sie Ihr Fach zusammenfassen?

Grenz: Der Schwerpunkt liegt in einer kritischen Reflexion des Umgangs mit Differenz. Damit verbindet sich auch eine Kritik an homogenen Strukturen, die Ausschlüsse oder Hierarchien produzieren. Ein ganz wichtiges Thema ist, auch schon in den damals noch so genannten Frauenstudien, die Kritik an den Wissenschaften: Die Aufteilung von Menschen in zwei Geschlechter wird als "natürlich" vorausgesetzt, und Frauen wurde die Befähigung zur Intellektualität und Kulturproduktion lange abgesprochen. Dementsprechend sind Werke von Frauen weder in den jeweiligen Kanon aufgenommen noch ihr Beitrag zur Geschichte berücksichtigt worden. Als weiblich angesehene gesellschaftliche Bereiche haben zudem als unwichtig gegolten.

STANDARD: Sie betonen die Differenz. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung werden die Gender-Studies eher mit Gleichheit identifiziert.

Grenz: Ich meine Differenz nicht essenzialistisch, etwa dass Körper mit bestimmten Eigenschaften verbunden sind. Männer, Frauen, Inter- oder Transpersonen haben erst einmal grundsätzlich dieselben Fähigkeiten. Natürlich hat jedes Individuum unterschiedliche Fähigkeiten, aber das ist unabhängig von den erwähnten Kategorien. Insofern muss man die Gleichheit natürlich betonen. Unsere Gesellschaft funktioniert noch immer so, dass mit der Feststellung des Geschlechts bei der Geburt oder auch schon davor unterschiedlich auf diese Menschen reagiert wird. Zudem identifizieren sich auch die Menschen selbst. Es gibt psychologische Untersuchungen, dass schon eineinhalbjährige Kinder wissen, welchem Geschlecht sie sich zuordnen müssen – also zu einer Zeit, zu der sie noch gar nicht richtig sprechen können. Diese Identifikationen tragen gemeinsam mit den Zuschreibungen von außen auch zur Entwicklung von Persönlichkeiten bei. Das muss berücksichtigt werden. Wenn Frauen etwa Managerpositionen einnehmen, dürfen sie sich nicht genauso wie Männer verhalten, denn dann werden sie häufig nicht anerkannt. Sie dürfen aber auch nicht zu "weiblich" sein. So gesehen müssen bestimmte Umgebungen also durchaus differenz- oder diversitätsfreundlicher werden.

STANDARD: Frustriert es Sie, dass die Arbeit der Gender-Studies oftmals sehr in Zweifel gezogen wird?

Grenz: Das ist ein Problem aller sozial- und geisteswissenschaftlichen Gebiete, die mit dem Alltag in unserer Gesellschaft zu tun haben. Alle, die sich im Alltag bewegen, glauben darüber qualifizierte Äußerungen machen zu können – denn sie sehen dies und jenes ja jeden Tag. Das Problem hat die Physik zum Beispiel nicht, da vertraut man den Experten und Expertinnen eher. Ich sehe zum Beispiel jeden Tag die Sonne aufgehen, doch ich vertraue dem astronomischen Wissen, dass das nicht so ist. Mit dem Alltagswissen über Geschlecht ist es häufig anders: Weil es einem so nahe und alltäglich ist, vertraut man den Experten und Expertinnen nur bedingt. Die Erkenntnisse der Gender-Studies sind tatsächlich nicht leicht zu vermitteln. So betrachtet ist es nicht frustrierend, sondern ich sehe es als Aufgabe.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der Verzahnung der Gender-Studies und der politischen Bewegung Feminismus um?

Grenz: Den Gender-Studies wird häufig vorgeworfen, sie seien "nur" politisch und nicht wissenschaftlich. Dem würde ich entgegenhalten, dass die Gender-Studies aufzeigen, was alles politisch ist – zum Beispiel in den Wissenschaften selbst, wenn bestimmte Menschen und die mit ihnen assoziierten gesellschaftlichen Bereiche keine oder nur eine geringe Berücksichtigung finden. Die Analyse dessen, wo überall bewusst oder unbewusst politisch motiviert gehandelt wird, deckt Herrschaftsstrukturen auf – und das stößt natürlich auf Widerstand.

STANDARD: Die Gender-Studies arbeiten auch eng mit den Critical Whiteness-Studies oder den Postcolonial Studies zusammen. Tun sie das nicht, gibt es oft Kritik daran, dass weitere Diskriminierungsebenen ausgeblendet werden. Auch am Feminismus wird immer wieder unter dem Stichwort "weißer Feminismus" Kritik geübt. Ist diese Kritik massiver geworden?

Grenz: Das Bemühen um Einschluss gibt es schon lange. Es gab bereits in den 1970er-Jahren die Diskussionen, dass auch die Feministinnen zum Homosozialen tendieren. Zu der schon erwähnten Rassismuskritik kommt auch die aus den Trans- und Queer-Studies. Und es gibt die vielleicht etwas weniger laute, aber trotzdem sehr wichtige Kritik aus den Disability-Studies. Es ist schwer zu sagen, ob diese Kritik massiver geworden ist. So oder so sehe ich sie als konstruktiven Beitrag zur Debatte und zur Weiterentwicklung der Gender-Studies.

STANDARD: Die Zahl derer, die Gender-Studies studieren wollen, steigt. Liegt es auch daran, dass immer mehr Frauen studieren, die seltener naturwissenschaftliche Fächer ergreifen?

Grenz: Nein, das glaube ich nicht. An der Wahl der Fächer lässt sich gut zeigen, wie komplex Geschlechterkonstruktionen sind. So gibt es merkwürdige Vorstellungen, etwa dass Mädchen besser in Sprachen seien und Buben besser in Mathematik. Dennoch sagen Mädchen vielleicht auch von sich selbst: Mathematik kann ich nicht. Identitätsbildung ist ein wechselseitiger Prozess und entsteht auch, indem man sich selbst von bestimmten Bereichen ausschließt. Deshalb ist es wichtig, früh anzusetzen. In die Ausbildung für Lehrer und Lehrerinnen müssten Grundlagen der Gender-Studies aufgenommen werden. Sie könnten dann im Unterricht Vorurteilen aufgrund von Geschlecht oder auch sozialer und ethnischer Herkunft gezielter gegensteuern. Ein ebenso wichtiger Punkt sind allerdings die stark männlich geprägten Wissenskulturen in den Ingenieurswissenschaften, die ebenso abschreckend auf Frauen wirken wie auch auf Männer, die sich weniger an den entsprechenden Männlichkeitsidealen orientieren.

STANDARD: Woran forschen Sie zurzeit?

Grenz: Ich habe mich für ein gerade abgeschlossenes Projekt mit Religiosität befasst und mit Debatten innerhalb der Gender-Studies zur Postsäkularität. Es gibt einerseits starke säkularistische Strömungen in den Gender-Studies. Auf der anderen Seite gibt es feministische Theologie, feministische Religionsforschung – diese beiden Stränge laufen aber weitgehend getrennt voneinander, es gibt keine richtige Diskussion. Neben diesen beiden, dem wissenschaftlichen und dem religiösen Wissen, gibt es noch eine dritte Kategorie, das künstlerische Wissen, zu dem von der Seite der Wissenschaft ebenfalls Abgrenzungen zu beobachten sind. Alle drei Bereiche haben aber zumindest eines gemeinsam: Es werden Grenzen überschritten und damit Erfahrungen von Transzendenz oder Selbsttranszendenz gemacht. Ich möchte die Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Prozesse untersuchen. Diese Frage ist für die Gender-Studies generell sehr wichtig, weil sie dazu dient, gesellschaftliche Debatten und Gespräche anzuregen. Solche Grenzüberschreitungen sind heute umso notwendiger, da auf diese Weise unterschiedliche Dimensionen von Differenz eingeschlossen werden. Diese können dann bis zur Berücksichtigung globaler Vernetzungen und der hier ankommenden Flüchtlinge reichen. (Beate Hausbichler, 19.4.2017)