PRO: Rechtsstaatlichkeit vor allem
von Thomas Mayer

Nach dem Referendum bleibt der EU keine andere Wahl, als die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auch formell zu beenden. Das ist keine Frage der politischen Opportunität, sondern eine juristische. Ein Land, das sich in fundamentaler Weise gegen die Prinzipien von Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit stellt, kann nicht Mitglied der Gemeinschaft werden.

Das widerspräche allen EU-Verträgen und Grundsätzen, die die Union im Inneren zusammenhalten. Daher ist nicht zu akzeptieren, wenn Präsident Recep Tayyip Erdoğan (oder sein Nachfolger) nach Belieben über Parlament, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition verfügte.

Alles andere wäre eine Selbstaufgabe. Das oberste Prinzip der Union ist die unbedingte Gültigkeit der Rechtsstaatlichkeit: Der freie Bürger und seine Rechte sind vor dem willkürlichen Zugriff der Staatsmacht zu schützen – nicht umgekehrt. Zu Recht läuft daher ein Verfahren gegen Polen.

Natürlich ist es schade, dass der türkische Beitrittsprozess nach fast zwanzig Jahren scheitert. Aber Verhandlungen sind kein Selbstzweck. Die Kommission sollte nach einer Prüfung die formelle Suspendierung oder Aufhebung der Verhandlungen vorschlagen, damit die Debatte zur Alternativlösung einer engen Partnerschaft beginnen kann. So wie das mit Großbritannien gerade anläuft. EU-Reife vorausgesetzt, kann von jedem europäischen Land jederzeit wieder ein neuer Beitrittsantrag gestellt werden. (Thomas Mayer, 18.4.2017)

KONTRA: Für eine andere Türkei
von Eric Frey

Knapp 24 Millionen Türken haben am Sonntag gegen die autoritäre Präsidialherrschaft von Tayyip Erdoğan gestimmt. Bei fairen Bedingungen im Wahlkampf und am Wahltag hätte das Nein-Lager wahrscheinlich gewonnen. Auch wenn nicht alle Erdoğan-Gegner lupenreine Demokraten sind, zeigt dieses Votum doch, wie stark das Verlangen der Türken – vor allem in den Städten – ist, zu Europa zu gehören. Und diese Menschen brauchen Unterstützung aus der EU. Die Beitrittsperspektive, so unrealistisch sie derzeit sein mag, ist die stärkste Waffe gegen Islamismus und Autoritarismus in der Türkei.

Ein endgültiger Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wie ihn Österreichs Regierung fordert, würde in der Praxis nichts ändern, da die Gespräche ohnehin eingefroren sind. Aber es wäre ein Signal, dass die EU nicht mehr an die türkische Demokratie glaubt – so wie Donald Trump, als er Erdoğan zum Sieg gratulierte. Der Abbruch ist genau das, was sich der türkische Präsident wünscht, weil er sich dann zum Opfer stilisieren kann. Die Wiedereinführung der Todesstrafe dient dem Zweck, diese Reaktion zu provozieren.

Die EU sollte nicht in diese Falle tappen, sondern deutlich erklären, dass man zwar mit Erdoğan keine Beitrittsgespräche führen wird, mit einer zukünftigen Führung, die sich an europäische Werte hält, aber schon. Ein formeller Abbruch würde diese Option verbauen – und die Opposition gegen Erdoğan massiv schwächen. Das müssten eigentlich auch Christian Kern und Sebastian Kurz verstehen. (Eric Frey, 18.4.2017)