Wichtig für die Betroffenen ist, dass sie sich über die Abläufe bewusst sind, wenn sie sich Hilfe holen. Welche Beratungen oder Therapien sind möglich?

Foto: APA/Armin Weigel

Viele Betroffene von sexualisierter Gewalt können ein Leben lang nicht darüber sprechen. Gesellschaftliche Vorstellungen, wann es sich um sexualisierte Gewalt handelt oder wer vorwiegend davon betroffen ist, sind für viele Hinderungsgründe. Zudem empfinden viele Betroffene Scham oder müssen sich mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Fragen aussetzen, warum man sich nicht oder nicht "ausreichend" gewehrt habe.

Dass auch Männer und Buben sexuelle Gewalt erleben, gehört noch weniger zum gängigen Bild der möglichen Opfer – und lässt viele Männer oft Jahre schweigen. Der Anteil der weiblichen Betroffenen ist laut Kriminalstatistiken dreimal höher als jener der männlichen Betroffenen.

Dunkelziffer womöglich weit höher

Laut den sogenannten Dunkelfelddaten auf Basis von Befragungen zu sexualisierter Gewalt sind zwischen vier und acht Prozent der männlichen Bevölkerung von sexualisierter Gewalt betroffen. Genaue Zahlen sind aufgrund unterschiedlicher Datenerfassungen und Definitionen von sexualisierter Gewalt nur schwer möglich. So gibt es etwa eine Definition sexualisierter Gewalt, wonach der Täter oder die Täterin fünf Jahre älter als der oder die Betroffene ist. Doch gleichzeitig existiert auch sexualisierte Gewalt zwischen Gleichaltrigen, die in dieser Definition keine Berücksichtigung finden würde. ExpertInnen gehen daher von einer weit höheren Dunkelziffer aus.

Für Männer und Buben gibt es noch einmal andere Gründe, nicht über die erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen. Die Geschlechterforscherin Elli Scambor hat sich mit diesen Gründen in einem zwischen 2013 und 2016 durchgeführten Forschungs- und Praxisprojekt beschäftigt. Unter dem Titel "Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche" hat sie sich gemeinsam mit Dissens – Institut für Bildung und Forschung in Berlin mit der Frage beschäftigt, was Betroffenen dabei hilft oder was sie hemmt, die erlebte Gewalt aufzudecken. Das Projekt wurde vom deutschen Bildungs- und Forschungsministerium im Rahmen der Förderlinie "Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten" gefördert.

Teile der Studie hat Scambor nun in dem Aufsatz "... erzähl, wenn dir danach ist. Ich hör dir zu" veröffentlicht, der vor kurzem in dem Journal "Soziales Kapital" erschienen ist. Für die Studie wurden unter anderem 31 Männer interviewt, die in ihrer Kindheit oder Jugend von sexualisierter Gewalt betroffen waren. "Wir wollten wissen, was für den Aufdeckungsprozess förderlich oder hinderlich war", erklärt Scambor.

Nie wieder darüber sprechen

Ein wesentlicher Grund, das Erlebte lange zu verschweigen, lag etwa in einer fehlenden Anerkennung. Es wurde befürchtet, dass die jeweiligen AdressatInnen das Geschehene nicht wirklich wahrnehmen oder registrieren. "In diesem Sinne gab es bei keinem Interviewpartner eine erfolgreiche Offenlegungen in der Kindheit und Jugend", fand Scambor heraus. So berichtete ein Interviewpartner, dass er einem Lehrer davon erzählte, dass sein Vater ihm gegenüber gewalttätig war – ohne Genaueres über die Form der Gewalt zu sagen. Daraufhin bat der Lehrer die Mutter und den Vater zum Gespräch, "er hat also den Täter eingeladen", betont Scambor. Das habe die Gewaltsituation nochmals enorm verschärft. Der Betroffene zog daraus die Konsequenz, nie wieder über die vom Vater ausgeübte Gewalt sprechen zu wollen.

Auch die Reaktionen auf sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen sind sehr oft alles andere als adäquat. Bei männlichen Betroffenen komme noch ein "doppelter Ausschluss" hinzu. "Wenn Buben von sexualisierter Gewalt betroffen sind, werden sie zum Objekt und werden vom Subjektstatus ausgeschlossen. Andererseits wird ihnen von der Gesellschaft Geschlechtlichkeit abgesprochen", führt die Männerforscherin aus. Traditionelle Männlichkeitsbezüge würden noch sehr stark mit Souveränität verknüpft – ein Männlichkeitsbild, das von sexualisierter Gewalt betroffene Buben nicht mehr erfüllen können. "Bist du jetzt homosexuell?", lautete etwa eine Frage, mit der männliche Betroffene konfrontiert waren – im Fall männlicher Täterschaft. Oder auch: "Bist du jetzt ein Sexualstraftäter?" – "Viele Betroffene haben für derartige Zuschreibungen ein gutes Sensorium und sprechen erst gar nicht darüber", meint Scambor.

Wo ist Solidarität zu erhoffen?

Das klassische Bild von sexualisierter Gewalt – Männer verüben sexualisierte Gewalt an Frauen und/oder Mädchen – kann verhindern, dass sich Männer überhaupt als Betroffene begreifen können. Das Wissen um die verschiedenen Formen von sexualisierter Gewalt ist somit ein wesentlicher Faktor, damit das Schweigen gebrochen werden kann. "Wenn ich keine Sprache für die Sexualität habe und keine Sprache für Gewalt, dann kann ich auch nicht darüber sprechen", sagt Scambor.

Auch ein sogenanntes Ereigniswissen stellte sich als förderlich für einen Offenlegungsprozess heraus – zu wissen und zu erkennen, was eigentlich passiert ist. Vor allem wenn die Gewalt innerhalb der Familie geschah, hatten die befragten Männer oft jahrzehntelang kein Wissen darüber, was eigentlich passiert war. Erst durch therapeutische Begleitung kamen nach und nach Erinnerungen auf. Eine weitere Hilfe ist das sogenannte Diskurswissen, also das Wissen darüber, dass eine Gesellschaft über sexualisierte Gewalt spricht und sie nicht tabuisiert. Wichtig ist für die Betroffenen auch, dass sie sich über die Abläufe bewusst sind, wenn sie sich Hilfe holen. Welche Prozesse werden in Gang gesetzt, welche Beratungen oder Therapien sind möglich? Wo kann man Hilfe und Solidarität erwarten? Ein Frage, die wohl alle Betroffenen von sexueller Gewalt beschäftigt – und noch immer viele enttäuscht. (beaha, 20.4.2017)