Rund 3000 Mitarbeiter beschäftigt der Internationale Währungsfonds, darunter hunderte Ökonomen. Handels- und Verteilungsfragen ließ der IWF lange gar nicht erforschen.

Foto: afp/Mandel Ngan

Washington – Von ihrem kleinen Büro an der 19th Street in Washington, D.C., hat Mitali Das in den vergangenen Monaten die Revolution vorbereitet. Die Ökonomin arbeitet für den Internationalen Währungsfonds (IWF). Sie sammelte Daten aus dutzenden Ländern. Ein Team unter ihrer Leitung führte die Kalkulationen durch, jedes Ergebnis wurde penibel nachgeprüft. Fehler durften nicht passieren, dafür war die Materie zu heikel.

In einer soeben publizierten Studie ist Mitali Das der Frage nachgegangen, wie sich globaler Handel und technischer Fortschritt auf Einkommen und Einkommensverteilung ausgewirkt haben. Wo der IWF in dieser Frage ideologisch steht, ist klar: Jahrzehntelang haben die Experten des Fonds gepredigt, dass Liberalisierung und Marktöffnung der beste Weg zu mehr Wohlstand für alle sind. Ungleichheit und Verteilungsfragen spielten in diesen Überlegungen keine Rolle. Die Arbeiten von Das, einer indischstämmigen ehemaligen Professorin an der Columbia-Universität, haben das verändert.

Lohnquote

Die Ökonomin und ihre Kollegen haben sich angesehen, wie sich der Anteil der Arbeitseinkommen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung (BIP) entwickelt hat. Unter die Lupe genommen wurde die Entwicklung dieser Lohnquote in 50 Ländern seit 1991. Das Ergebnis: Weltweit erhalten Arbeiter und Angestellte heute in der Mehrzahl der Länder einen geringeren Teil vom erwirtschafteten Wohlstand als zu Beginn der 1990er-Jahre. Auf Kapitalerträge dagegen entfällt ein größerer Teil des Kuchens. Das gilt auch für Österreich, hier sank die Lohnquote von 50 auf 48 Prozent.

Die größten Verluste nach Branchen gab es in der Industrie, dem Transportsektor und dem Bergbau. Ungelernte Arbeiter und solche mit mittlerer Ausbildung (Berufsschulen etc.) haben am meisten verloren. Dagegen bekommen Hochqualifizierte, Personen mit Hochschulabschluss, mehr vom Kuchen.

In einem zweiten Schritt analysierten die IWF-Leute, womit diese Veränderungen zu tun haben. Den stärksten Zusammenhang gibt es mit dem Grad der Automatisierung: Arbeiter wurden durch Maschinen ersetzt. Berücksichtigt man den technischen Fortschritt, sind die Preise für Maschinen und Computer in den vergangenen Jahrzehnten in allen Industrieländern stark gefallen. In jenen Wirtschaftssektoren, in denen es für Unternehmen besonders billig geworden ist, Menschen zu ersetzen, gab es die größten Einbrüche bei der Lohnquote. Mehr als 50 Prozent des Verlustes sind demnach mit Automatisierung erklärbar, heißt es in der IWF-Studie. Der zweite große Faktor ist die globale Vernetzung. In Branchen, die sich geöffnet haben und heute stärker vom Welthandel abhängen als früher, haben die Arbeitnehmer ebenfalls stärker verloren. Arbeitsplätze wurden also ins Ausland verlagert. Ein Viertel der Verluste bei der Lohnquote ist durch Globalisierung erklärbar. Die übrigen Verluste können die IWF-Experten nicht begründen.

Bruch mit alten Gewissheiten

Lange war es eine Gewissheit für Ökonomen, dass Menschen in reichen Ländern, die aufgrund von Handelsliberalisierungen ihre Industriejobs verlieren, anderswo gute bezahlte Arbeit finden. "Die Studie zeigt, dass das vielfach nicht geschehen ist", sagt Das im STANDARD-Gespräch in Washington. Industriearbeiter wurden oft in schlechter bezahlte Branchen abgedrängt oder kämpfen mit stagnierenden Löhnen.

Gegen diese Interpretation lassen sich Einwände finden: Eine sinkende Lohnquote muss kein großes Problem sein. Wenn Arbeitseinkommen zulegen, nur eben nicht so stark wie das BIP, sinkt die Lohnquote, und es werden trotzdem alle reicher. Doch dieses Argument will Mitali Das nicht gelten lassen. In vielen Industrieländern sei das Wachstum zuletzt schwach gewesen. Dieses kleine Plus habe sich in den Händen weniger konzentriert. Weil viele Menschen über kein Kapital, keine Aktien oder Immobilien, verfügen, konnten sie ihre Verluste bei Lohneinkommen im Gegensatz zu Wohlhabenden nicht ausgleichen, so Das.

Die Entwicklung in Schwellenländern wie China und Indien interpretiert sie anders. Auch dort sei die Lohnquote gefallen. Doch dort habe die Globalisierung große Wohlstandsgewinne für alle Bevölkerungsschichten, besonders für Arme, gebracht.

Freihandel versus Protektionismus

Hitzige Diskussionen ausgelöst hat die Studie, die im Vorfeld der diesen Freitag beginnenden IWF-Frühjahrestagung vorgestellt wurde, in Washington selbst. Der Währungsfonds als wichtigste multilaterale Finanzorganisation hat sich lange Zeit nicht mit den Schattenseiten der Globalisierung beschäftigt. Heute würde man das gern ändern. Der Streit um Freihandel vs. Protektionismus spielt schließlich derzeit in allen großen Wahlkämpfen in Europa und den USA eine wichtige Rolle – aktuell in Frankreich. Fachwissen wäre also gefragt. Doch dem Währungsfonds fehlt ebendieses, sagt ein Insider. "Die dominante Einstellung lautete Jahrzehnte: Globalisierung ist gut. Ende", erzählt ein IWF-Diplomat. Systematische Forschung zu Handels- oder Verteilungsproblemen gab es nicht. "Wenn Sie heute im IWF einen Ökonomen sagen, er solle ihnen darlegen, was die Auswirkungen des nordatlantischen Freihandelspaktes Nafta sind, werden Sie keine Antwort bekommen", so der IWF-Vertreter.

Die Lücke zeigt sich dort, wo der IWF auf identifizierte Probleme Antworten sucht. Im aktuellen Weltwirtschaftsbericht des Fonds wird Ungleichheit angesprochen – doch viel mehr als den allgemeinen Ratschlag, Staaten sollten dagegen etwas tun und die Früchte der Globalisierung besser verteilen, gibt es für Politiker nicht. (András Szigetvari aus Washington, 20.4.2017)