Demonstranten wehrten sich auch gegen Tränengasgranaten.

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Caracas/Puebla – Venezuelas Präsident Nicolas Maduro gerät immer mehr unter Druck: Am Mittwoch (Ortszeit) demonstrierten im ganzen Land über eine Million Menschen gegen die sozialistische Regierung, forderten Neuwahlen und humanitäre Hilfe, Medikamente und Lebensmittel. An einer von der Regierung angesetzten Gegendemonstration nahmen Zehntausende teil, meist Staatsangestellte und Sozialhilfeempfänger.

Bei den Protesten, die von Sicherheitskräften und regierungsnahen Milizen niedergeschlagen wurden, kamen zwei junge Menschen ums Leben. In Caracas starb ein 17-Jähriger durch einen Kopfschuss, in Tachira wurde eine 23-Jährige erschossen. Ersten Informationen zufolge waren beide nicht direkt an vorderster Front an den Protesten beteiligt, sondern wurden von paramilitärischen Kommandos am Rande ermordet, offenbar um Panik zu säen. Darüber hinaus starb ein Mitglied der Nationalgarde, wie die Zeitung El Nacional berichtete. Dutzende wurden verletzt, über 100 festgenommen.

Es war die größte Kundgebung gegen Maduro seit Beginn der Proteste vor drei Wochen, die insgesamt schon acht Menschen das Leben gekostet haben. In Caracas spielten sich – ähnlich wie in anderen Städten – dramatische Szenen ab. Die Sicherheitskräfte riegelten das Zentrum und Einrichtungen der Regierung ab und feuerten stundenlang mit Tränengasbomben und Gummigeschoßen, um die Protestmärsche aufzulösen. Dutzende Demonstranten retteten sich mit einem Sprung in den kloakenähnlichen Guaire-Fluss, um den Attacken zu entkommen. Andere, zumeist vermummte Jugendliche, antworteten mit Steinen und Molotowcocktails und errichteten brennende Barrikaden.

Die staatlichen Medien übertrugen derweil Kindersendungen und Seifenopern. Ausländische Sender, die die Kundgebungen übertrugen, wurden abgeschaltet, darunter der kolumbianische Canal El Tiempo und der argentinische TN. In der Nacht klapperten in ganz Caracas Kochtopfdeckel – eine in Südamerika verbreitete Form des Protests. An den Protesten beteiligten sich auch die Armenviertel, lange eine Hochburg der sozialistischen Regierung.

Motorradgangs als Stoßtrupp

Entzündet hatte sich die Krise an der jüngsten Entscheidung des von Maduro kontrollierten Obersten Gerichtshofs, dem oppositionellen, bürgerlichen Parlament die Befugnisse abzuerkennen und fortan selbst Gesetze zu erlassen. Aufgrund der nationalen und internationalen Proteste ruderte das Gericht auf Anweisung von Maduro zwar zurück, doch den Volkszorn konnte er damit nicht besänftigen. Angesichts von über 700 Prozent Inflation, Güterknappheit und galoppierender Kriminalität wollen Umfragen zufolge drei Viertel der Venezolaner Neuwahlen. Maduros Popularität liegt bei unter 20 Prozent.

In Venezuela habe die Revolution gesiegt, alle Revolutionäre stünden Gewehr bei Fuß, um sie zu verteidigen, erklärte der ehemalige Parlamentspräsident und Leutnant a. D. Diosdado Cabello, eine der einflussreichsten Figuren der Sozialistischen Einheitspartei PSUV. Er gilt als Organisator der "colectivos": organisierter Motorradgangs, die kriminellen Aktivitäten nachgehen, aber auch der Regierung als paramilitärische Stoßtrupps dienen. Cabello zufolge waren am Mittwoch 60.000 Mitglieder der gefürchteten "colectivos" im Einsatz.

"Auf Unterdrückung und Barbarei antworten wir mit mehr Demokratie", erklärte Oppositionsführer Henrique Capriles und rief für Donnerstag zu neuerlichen Kundgebungen auf. Capriles wurden kürzlich seine politischen Rechte auf 15 Jahre aberkannt. Ein regierungsnahes Gericht begründete dies mit "Unregelmäßigkeiten" während seiner Amtszeit als Gouverneur. Seit 2015 sitzt Oppositionsführer Leopoldo López in Haft. Weiteren Oppositionspolitikern, die Maduro als "Putschisten und Verschwörer" bezeichnet hat, droht ein ähnliches Schicksal.

Maduro hält noch die Zügel in der Hand, nachdem ihm die Streitkräfte diese Woche ihre bedingungslose Loyalität erklärt haben. Sie gelten als die eigentlichen Stützen der Macht. Gegen viele von ihnen laufen im Ausland Ermittlungen, unter anderem wegen Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Geldwäsche und Drogenhandels. Allerdings bröckelt Maduros Unterstützerfront. Gruppierungen wie Marea Socialista haben sich schon vor Monaten abgespalten und den Forderungen nach Neuwahlen angeschlossen.

Lahme Wirtschaft

Auch an der wirtschaftlichen Front ziehen dunkle Wolken auf. Der Verfall der Erdölpreise und die sinkende Produktion haben die Staatseinnahmen schrumpfen lassen. Die Auslandsschulden sind gestiegen; die Finanzmärkte sehen einen Zahlungsausfall immer näher rücken. Bisher hat der Staat seine Schulden pünktlich bedient, musste dafür aber die Importe weiter zurückfahren, was die Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit verschärft.

Bereits jetzt leben 80 Prozent der Venezolaner in Armut. Das Gesundheitssystem ist einem Kollaps nahe. Venezuela importiert rund 80 Prozent seiner Gebrauchsgüter und bezieht 90 Prozent seiner Deviseneinnahmen aus dem Ölexport. Die von der sozialistischen Regierung versprochene Diversifikation des Außenhandels wurde nie verwirklicht. (Sandra Weiss, 20.4.2017)