Die Ära der "Star-Architekten" und "Star-Designer" wandelt sich. Eine neue Design-Denke zieht in die Landschaft des Produktdesigns ein. Statt Stars sind heute Storys gefragt: Weniger Personenkult, dafür emotionalere Modelle mit einer Geschichte, so lautet die Gleichung. Einer, der das verstanden hat, ist der deutsche Designer Werner Aisslinger. Er sagt: "Ich bin vor allem DJ und Storyteller, ein Modell soll eine Geschichte erzählen." Klingt clever. In einer Zeit, in der es bereits alles gibt, Klassiker stets neu interpretiert werden und praktisch nichts Neues erfunden werden kann – da bekommt ein Designer andere Aufgaben. Aisslinger vergleicht seine Arbeit eher mit der eines Kurators, der Dinge zusammenstellt und auswählt.

Werner Aisslinger und sein stapelbarer "Hemp chair", ein Freischwinger aus Hanf, der von Moroso produziert wird.
Foto: Michel Bonvin

Form Follows Emotion

Das heißt: Statt um einen Stil, um eine visuelle Handschrift oder Formensprache zu ringen, zitiert der Designer von heute lieber aus einem reichen Fundus, verbindet diese Elemente zu Collagen, zu Konzepten und Visionen. Aus dem vielzitierten Leitsatz "form follows function" macht Aisslinger ein "form follows emotion", vor allem aber ein "form follows material". Seine Themen drehen sich um den Materialtransfer, um ein nachhaltiges Leben im Hier und Jetzt und um Zukunftsvisionen für morgen. Zu seinen Vorbildern zählt er den Designer Joe Colombo und Richard Buckminster Fuller, amerikanischer Architekt, Philosoph und Visionär, bekannt für seine energie- und materialeffizienten Konstruktionen.

Geboren 1964 in Nördlingen, wuchs Aisslinger im Allgäu auf und ging nach Berlin, um dort von 1987 bis 1992 Industriedesign an der Hochschule der Künste zu studieren. Nebenbei arbeitete er für Designgrößen wie Jasper Morrison, Ron Arad und Michele de Lucchi. Beste Adressen also, um sich selbst einen Namen zu machen. Zum Beispiel mit dem "Juli chair" für Cappellini, ein blütenförmiger Drehstuhl, der an den legendären "Swan chair" von Arne Jacobsen erinnert und es in die Sammlung des Museum of Modern Art (MoMA) in New York geschafft hat. Daneben hat der Allrounder von der Sonnenbrille über Tapeten und Leuchten bis hin zu Kommoden oder Armaturen so ziemlich alle Dinge des täglichen Lebens entworfen.

Strickstoff und Stahlrohr geben dem "Knitted chair" die Optik einer korpulenten Blüte.
Foto: Steffen Jänicke

Ein stetes Motiv sind seine modularen Konzepte, sei es das Bücherregal "Endless Shelf" für Porro oder das originelle Regal "Books" von 2007. Dabei wird das Buch selbst zum Baumaterial, montiert mit metallenen Winkeln. Zudem sind es Materialien und Stoffe aus Autoindustrie, Medizin, Biowissenschaften, die den Designer inspirieren. Für den "Gel Chair" und die Liege "Soft chaise" für Zanotta verwendete er Polyurethan-Gel, ein Hightechmaterial, das eine Gitterstruktur transluzent umschließt und dessen Oberfläche haptisch an menschliche Haut erinnert (was sogar Hollywoodstar Brad Pitt überzeugte, der drei der Lounge-Möbel für sein Haus in Santa Barbara orderte).

Angetan vom nomadischen Leben, präsentierte Aisslinger schon 2003 den "Loftcube", der nachhaltig für Aufsehen sorgte. Der 39 (oder alternativ 55) Quadratmeter große Wohnwürfel ist die Minimalversion einer modularen Einheit, ein offen gestaltetes, mobiles Ein-Raum-Konzept mit großzügigen Fensterfronten. Erdacht, um zusätzlichen Wohnraum auf den Dächern der Großstadt zu erschließen, ist das transportable Mikro-Wohnkonzept eine Vorlage, an der inzwischen viele Designer weiterfeilen.

Hier ist Werner Aisslingers berühmter "Loftcube" zu sehen.
Foto: Studio Aisslinger

Was dem Designer, der Dinge vom Flohmarkt schätzt, sonst noch am Herzen liegt? "Langlebige Produkte mit Seele und Leben zu machen, die eine Personality haben und von ihrer Entstehung erzählen. Nur das Narrativ ist es heute noch wert, Design zu machen", sagt Aisslinger, der schon Stühle aus Strickstoff und Stahlrohr wie den "Knitted Chair" entwickelte.

Beim stapelbaren "Hemp chair", einem Freischwinger aus Hanf für Moroso, greift der Macher auf pflanzliche Werkstoffe – und formal auch auf den "Panton Chair" – zurück.

"Für manche Hersteller bin ich zu experimentell", sagt Aisslinger, der aktuell in der Pinakothek der Moderne in München mit dem "House of wonders" Modelle nachhaltig-futuristischer Konzepte zeigt. "Die Frage lautet doch: Wie werden wir leben?" Das beantwortet er unter anderem mit seiner "Chair farm". Nach dem Motto "Ich pflanz mir einen Stuhl" kann man hier selbigen in Beeten züchten, diese gießt wiederum ein Mini-Roboter – im buntgeringelten Handstrickpulli, der dem glatten Hightech-Männchen die Perfektion und Kälte nimmt. Während wir künftig per "Micro Farming" Gemüse selbst in der Küche ziehen und im textilen Bad-Biotop (für Axor/Hansgrohe) den natürlichen Wasserkreislauf wiederbeleben, schonen wir die Ressourcen und versorgen uns selbst. "Man muss die Technik zum Nutzen der Menschen einsetzen, ohne sie zu glorifizieren", findet Aisslinger und lässt die Wäsche künftig per Drohne auf die Leine hängen.

Aisslingers "A-Chair".
Foto: Studio Aisslinger

Patchwork-Design

Inspirationen aus der Natur stehen auch für Aisslingers zahlreiche Store- und Interior-Konzepte Pate wie das "25 Hours Hotel Bikini Berlin", für das er eine Art "urban jungle" mit Vintage-Elementen kreierte. Mit Pflanzwänden aus Holzpaletten, Blumenampeln wie in den 80ern, Orientteppichen und schnittigen Lounge-Chairs inszeniert der Kreative bewusste Brüche, wie man sie gerade in Städten wie Berlin findet.

Die Lobby des "25 Hours Hotel Bikini" in Berlin.
Foto: Stefan Lemke

Ein lässiger Wurf ist hier – fernab deutscher Biederkeit – die für Moroso entworfene Sitzlandschaft "Bikini Island", eine modifizierbare Collage aus Polstern, Sitzen und Hockern in diversen Farben und Höhen – und damit ein Abbild der Gesellschaft mit ihren Patchworkfamilien und geänderten Ansprüchen. ",Bikini Island ist als Treffpunkt im Familienleben konzipiert, wo heute viele Aktionen parallel laufen, jeder macht was anderes", erklärt der Designer, dessen Berliner Studio aktuell zwölf Mitarbeiter zählt. 2008 entstand eine Filiale in Singapur.

Dass Aisslinger zahlreiche Preise wie den "Compasso d'Oro" oder den "Red Dot" eingeheimst hat und zudem als Professor sieben Jahre an der HfG Karlsruhe unterrichtete, gehört inzwischen zum Portfolio eines erfolgreichen Designers. Bleibt die Frage: Kann ein Designer heute noch die Welt verbessern? "Im Kleinen, ja", sagt er. "Wir arbeiten unter vielen Einflüssen, sind Dienstleister der Industrie. Es gibt zu wenige wie Buckminster Fuller, wir könnten visionärer sein, mehr Materialexperimente probieren – und eben gute Geschichten erzählen." (Franziska Horn, RONDO OPEN HAUS, 7.7.2017)

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