Viel Zorn und starker Tobak in seinem Luther-Roman: Feridun Zaimoglu.

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Das Historische im Roman bedeutet Distanz und Fiktion. Wenn Personen aus der Geschichte in literarischen Werken vor Leseaugen treten, sind sie jedenfalls Figuren und leben von der Abbildungs- wie der Einbildungskraft ihrer Autoren. Selbstredend gilt dies auch für Evangelio von Feridun Zaimoglu, der sein jüngstes Werk im Untertitel als "Luther-Roman" kennzeichnet.

Zum 500. Mal jährt sich die Veröffentlichung der 95 Thesen des Reformators; ob er sie in Wittenberg wirklich ans Kirchentor schlug, bleibt ungewiss. Zu den vielen Legenden, die nach seinem Ableben intensiv kursierten, gehört die "Wartburggeschichte", Luther habe ein Tintenfass gegen den Teufel geschleudert. Tatsache ist: Der Kurfürst von Sachsen nahm 1521/22 den mit der Reichsacht belegten, somit zur Tötung freigegebenen Luther geheim in Schutz und Gewahrsam, setzte ihn auf der Wartburg bei Eisenach fest.

Dort hauste Luther als "Junker Jörg" mit adeliger Haar- und Barttracht, trug ein Schwert, litt an körperlichen Gebrechen und seelischen Anfechtungen. Und dort übersetzte er die Bibel ins Deutsche, ein Werk von enormer sprachlicher, kultureller und politischer Bedeutung.

Originelles Konzept

Die Monate auf der Wartburg und einen zwischenzeitlichen Kurzbesuch bei Melanchthon in Wittenberg hat sich Zaimoglu für seinen Roman vorgenommen. Von der Flut an Publikationen im Luther-Jahr – von theologischen oder belletristischen Einlassungen bis zu Reise- und Kochbüchern auf den vorgeblichen Spuren des Reformators – unterscheidet sich Evangelio durch das originelle Konzept und die sprachliche Form. Seit Kanak Sprak (1995) ist Zaimoglu bekannt und gelobt dafür, dass er ein eigenes, dem Thema adäquates Wortuniversum zu schaffen versteht.

Für Martin Luther baut er wohl auf der Distanz des historischen Fundaments auf, sucht jedoch die Unmittelbarkeit einer Art Direktübertragung. Zum Ich-Erzähler im Präsens wählt er eine geschichtlich nicht belegte Figur, den Landsknecht, der im Dienste des Kurfürsten den Reformator zu bewachen hat.

Ein Ausdruck, so roh wie die Sitten

Das bringt die extreme Nähe dessen, der oft denselben Raum mit Luther teilt, und zugleich eine interessante Ferne des Charakters. Dieser kriegerische Burkhard ist ein gewalttätiger Haudegen sowie ein papsttreuer Katholik, der für Leib und Leben des "Ketzers" zu haften hat. Um nicht nur seine Stimme zu Wort kommen zu lassen, setzt Zaimoglu als gewiefter Arrangeur einige (fiktive) Briefe Luthers zwischen die Kapitel aus der Sicht des Landsknechts. Beiden aber gibt er fast den gleichen Duktus, eine Kunstsprache, die sich offenbar jener des 16. Jahrhunderts annähern soll.

Dieser Ausdruck ist meist so roh wie die Sitten. Es wird gesoffen, gezinkt, gespien, geblutet, gehext. Teufel und Aberglaube plagen, die ganze Zeit scheint zu stinken. Es wechseln Kämpfe und Jagden, Hurerei und Hinrichtungen, Brandreden und Hinterhältigkeiten. Oft und oft treten Luthers wilder Antisemitismus, seine Verachtung der Frauen und der Bauernkrieger hervor. Wie Burkhard bilanziert: "Immerzu geht's um Sünd und Seelenkampf."

Gegen Teufel und Papst

Die kraftvolle Sprache mit ein paar lyrischen Passagen vermag durchaus zu faszinieren, sie schafft das Ambiente: "Irrlichter im tief verhangenen Himmel, kältestarre Zweige, die wie Totenbeine aufragen, Pestluft und Tierheit allüberall, es beengt mir die Kehle." Er sei, erklärt Burkhard, "ein gerauter Kerl, gehobelte, geschliffene Fresse", solange "mein Kopf nicht birst, kann ich Eisen halten". Nicht weniger wild klingt Luther, nicht nur wenn es so oft gegen Teufel und Papst geht. Er schreit: "Papst, das ist der Gaunername des Diebsbuben, Papst ist Jud und Türck an Tücke überlegen, die Kirche frisst, der Teufel reibt sich den vollen Magen."

Auf die Länge des Romans jedoch ermüden das Geschrei und die Klagen von Umbruchs-, ja Endzeit: "Die Bestie brüllt, die Propheten brüllen, Endzeit ist erfüllt, das Reich Gottes naht." Oder die Figuren "wispern" – Zwischentöne gibt es kaum. Folglich wird die Lektüre mühsam, nicht nur wegen des Eindrucks, es mangle an erzählerischer Entwicklung. Die Natur- und Milieubilder wirken schließlich übertrieben, alle möglichen Auswüchse des Aberglaubens redundant.

Ein Hin und Her der Phrasen der Epoche

So spitzt Zaimoglu nicht zu, sondern schafft ein Hin und Her der Phrasen der Epoche, der Bibelworte und Beschimpfungen, so viel Zorn, zu viel starker Toback. In der Bemühung, nicht die damalige Zeit zu uns zu versetzen, sondern uns in die Zeit zu versetzen, erscheint die Sprache simuliert. Die Erzählperspektive funktioniert nicht konsequent – auf Plausibilität ist Zaimoglu aber offenbar aus: Ein Landsknecht mit dieser Geschichte kann viele der ihm zugeschriebenen Sätze gewiss nicht denken.

Immerhin baut Feridun Zaimoglu eine eigene Welt aus Sprache. Das ist im heutigen Literaturbetrieb, der tagebuchartiges Geplapper, versetzt mit Provokationsposen, hochlobt, schon viel. "Mit Geschichte will man etwas", schrieb Alfred Döblin über den historischen Roman. Es bleibt der Eindruck, Zaimoglu wolle uns allzu heftig in die Zeit zerren. (Klaus Zeyringer, 22.4.2017)