Am Tag nach der Schussattacke war das Leben auf den Champs-Élysées fast wieder normal. Der Terror hat den Wahlkampf am Ende doch eingeholt, dennoch dominierte der Zorn der Franzosen auf ihre Politiker.

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Le Pen werde wegen des Anschlags von Donnerstag nicht viel mehr Stimmen erhalten, den Franzosen sei bewusst, dass langfristig gesellschaftliche und ökonomische Probleme gelöst werden müssen, sagt Politologe Asiem El Difraoui im ORF-Interview.

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Zum Schluss dann noch der Terror: Ein mutmaßliches Mitglied der Terrorgruppe IS erschoss am Donnerstagabend auf den Pariser Champs-Élysées einen Polizisten und verletzte drei Personen, bevor es selbst getötet wurde. Diese letzte dramatische Wende im französischen Präsidentschaftswahlkampf lieferte zwar noch Stoff für Zwist auf der politischen Bühne, doch im terrorerfahrenen Frankreich hat dieser Vorfall die Dinge nicht mehr völlig auf den Kopf stellen können – denn dafür hatte der Wahlkampf schon vorher selbst gesorgt.

Denn das Schlüsselwort hieß in dieser Kampagne nicht "terrorisme", sondern "dégagisme", nach dem Verb "dégager" (entfernen, freilegen). Das Phänomen, Politiker einfach abzuservieren, kam in Frankreich im vergangenen Herbst auf: Bei den Republikanern wurden die Kronfavoriten Alain Juppé und Ex-Präsident Nicolas Sarkozy in den Primärwahlen hinweggefegt.

Bei den Sozialisten traf es Staatspräsident François Hollande und Premier Manuel Valls. "Dégagez!", schallt der Ruf durchs Land, voller Zorn über unfähige Politiker, die nichts ausrichten gegen die rekordhohe Arbeitslosigkeit und die explosive Banlieue-Misere – und den Terror.

"Unser Land ist krank. Es ist gegen die nötigen Reformen, wütend über seine politischen Eliten, aber anfällig für demagogische Wahlversprechen, die zu einer schrecklichen Vertrauenskrise führen", resümierte Juppé mit Grabesstimme die Lage der Nation, bevor er die Bühne verließ.

Aufräumen und ausmisten

Die Franzosen wollen reinen Tisch machen. Die beiden Parteien, die sich seit 1958 an der Macht abgelöst haben, sind gerade am Implodieren: Die seit der Mitterrand-Ära so prägenden Sozialisten laufen mit ihrem Kandidaten Benoît Hamon nur noch unter "ferner liefen" und antizipieren eine Spaltung; das gleiche Los erwartet die konservativen Republikaner, falls es ihr Frontrunner François Fillon nicht in die Stichwahl schaffen sollte.

Fillon war im Kielwasser der "Dégager"-Welle an die Parteispitze gespült worden, ist aber längst selbst in den Strudel geraten. So wie Sarkozy verkörpert auch er nicht gerade einen Neuanfang – eigentlich genauso wenig wie die Rechte Marine Le Pen, die bloß ihren Vater Jean-Marie beerbt hat. Jean-Luc Mélenchon ist schon unter François Mitterrand Senator gewesen, und sogar Emmanuel Macron will Hollandes Wirtschaftspolitik in vielerlei Hinsicht weiterführen.

Darin liegt das Paradoxon dieser Wahl: Die Erneuerung ist nur eine scheinbare. "Damit sich in dem französischen Drama nichts ändert, muss sich in der französischen Komödie alles ändern", analysiert der Liberale Serge Federbusch.

Das eigentliche Problem greift auch Jungstar Macron nicht an: den lähmenden Zentralismus. Dieser wird von einer Technokratenelite dirigiert, die allen Wahlversprechen widersteht.

"Falle des doppelten Defizits"

Frankreich bleibe wirtschaftspolitisch "festgefroren", meint der Ökonom Nicolas Baverez. Die Nation stecke "in der Falle des doppelten Defizits": Im Inneren setzen alle das seit 40 Jahren grassierende Budgetdefizit fort, was die Staatsschuld auf fast 100 Prozent des Bruttoinlandproduktes anschwellen lässt; und außen fährt die Wirtschaft seit über einem Jahrzehnt ein gewaltiges Handelsdefizit ein, weil die Unternehmen vor allem wegen der exorbitanten Steuer- und Abgabenlast nicht mehr konkurrenzfähig sind und Industriezweige an Billiglohnländer verlieren. "Wir unterhalten den revolutionären Mythos, dass wir zum Umsturz bereit seien", analysiert Thierry Pech vom linken Thinktank Terra Nova. "Aber die Realität ist eine andere."

Diese Wirklichkeit besteht auch darin, dass Frankreich das "Banlieue-Problem" nicht zu lösen vermag. Dabei bildet es nicht nur den Nährboden für salafistische Terrorideologien, sondern auch für Xenophobie und Populismus. Diese Einwandererzonen sind in Wahrheit wirtschaftliche Ghettos, aus denen die Jungen den Sprung heraus kaum jemals schaffen. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht dort stellenweise 30 bis 40 Prozent. Landesweit liegt sie bei 24 Prozent, weit über dem EU-Schnitt.

"Frankreich hat seine Jugend geopfert", urteilt der Journalist François Lenglet in einem vielbeachteten Buch über den Preis, den die junge Generation heute dafür zahle, dass die Babyboom-Generation über ihre Verhältnisse gelebt habe. Sie habe das Savoir-vivre perfektioniert, indem sie ein hohes Lohnniveau, die 35-Stunden-Woche und einen rigorosen Kündigungsschutz durchgesetzt habe. Die jüngere Generation werde hingegen zumeist nur noch mit halbjährigen Kurzzeitverträgen (CDD) angestellt. Wenn überhaupt. Statt in Lebenskunst übe sie sich darin, wirtschaftlich überhaupt zu überleben, schreibt Lenglet.

"Verlorenes Jahrzehnt"

Da muss man nicht lange fragen, für wen die jungen Franzosen am Sonntag stimmen werden: Ihre Gunst haben Rechts- und Linkspopulisten wie Le Pen und Mélenchon.

Präsident Hollande verkörperte bis hin zur Karikatur das französische Lavieren zwischen Stillstand und Handeln, Blockade und Reform. Sein Vorgänger Sarkozy (2007–2012) hatte zuvor nicht minder gezaudert. "Ein verlorenes Jahrzehnt für Frankreich", urteilt der renommierte Leitartikler Jean-Pierre Robin.

Das allgemeine Zaudern im Élysée-Palast entspricht dem Zorn der Wähler, die ihre alten Politiker abservieren, aber das alte System mit Privilegien, Steuernischen und Sonderrechten bewahren wollen. Es ist auch der Zorn über den unausweichlichen Abschied vom französischen Sozialmodell, ja, von einem gewissen Savoir-vivre.

Es wäre vor allem den jungen Franzosen zu gönnen, dass sie ein Staatsoberhaupt bekommen, das die Dinge wirklich anpackt. Sonst verkommt die Frankreich-Wahl wirklich noch zu einem Drama. (Stefan Brändle aus Paris, 21.4.2017)