Der deutsche Dirigent Marc Albrecht über Komponist Hans Werner Henze: "Er wollte immer, dass es klingt und dass es singt."

Foto: Marco Borggreve

STANDARD: Sie haben schon einige Opern von Hans Werner Henze dirigiert. Welche Stellung hat für Sie dessen Werk in der Musik des 20. Jahrhunderts, und wodurch zeichnet es sich aus?

Albrecht: Er hat ja alles gekonnt. Es gibt hinreißende Lieder von ihm, Sonette, Kammermusik, Symphonien und natürlich diese Opern – vierzehn Stück, glaube ich. Das Bühnenwerk ist wohl das Machtvollste und das Wichtigste in seinem Schaffen. Was ich persönlich an ihm schätze, ist, dass er nach den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs in seiner Musik immer nach dem Schönen gesucht hat. Er wollte, dass es klingt und dass es singt. Ich sehe ihn in der Nachfolge von Richard Strauss, von Alban Berg; in gewisser Weise folgt Wolfgang Rihm seiner Spur.

STANDARD: Henze hat sich in seinem Schaffen ja immer auch von den Schönheiten der Musikgeschichte inspirieren lassen. Was ist diesbezüglich in seiner "Elegie für junge Liebende" zu hören?

Albrecht: Er spielt unter anderem auf virtuose Weise mit der Musik der Barockzeit, es gibt madrigalartige Stellen, aber auch viele Ensembles. Bei den großen, turbulenten Szenen ist einiges von Strawinsky abgelauscht, es gibt sogar ein Zitat aus dem Sacre zu entdecken. Die Musik ist für 25 Musiker, die Textur ist sehr fein.

STANDARD: Der Musikwissenschafter Ulrich Dibelius konstatiert bei Henzes "Elegie" ein "ungeschlichtetes Nebeneinander von Karikatur und atmosphärischer Beschwörung, von Ernstnehmen und Belächeln der gezeigten Jugendstilwelt". Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Albrecht: Ich sehe es auch so, dass sich ironische Distanz und direkte Emotionalität oft abwechseln – das geschieht aber bewusst, und Henze bleiben dadurch alle Möglichkeiten offen. Die Hauptfigur, den Dichter Georg Mittenhofer, sieht er kritisch, und das komponiert er auch so: Er umgibt ihn mit Pomp. Da gibt es ein Tamtam und große Arpeggien, da wird zwölf Mal derselbe Akkord raufgerollt im Crescendo, und dann kommt er endlich zu seinem Auftritt. Es gibt aber auch viele kleine Albernheiten, die Sottisen im Libretto widerspiegeln.

STANDARD: Sie haben Hans Werner Henze auch persönlich gekannt. Wie war er denn eigentlich so als Mensch?

Abrecht: Umarmend. Und unwahrscheinlich humorvoll. Ein feiner, leiser Mensch, ein Ästhet. Er war freigiebig und großzügig. Und auch einer, der jedes Wort fein gewichten konnte. Ich fand ihn als junger Mensch sehr faszinierend, auch seine Musik, die mein Vater ja sehr viel dirigiert hat.

STANDARD: Waren die Proben mit den Symphonikern fordernd?

Albrecht: Wir haben hier zusammen ja schon vor sieben Jahren Henzes Prinz von Homburg gemacht, und etliche der Musiker sind wieder mit dabei. Es ist natürlich für alle herausfordernd. Aber wenn man sich etwas locker macht bei den Proben, kommt man schnell ziemlich weit.

STANDARD: Ihre künstlerische Heimat ist nun die Amsterdamer Nationaloper, sie wurde 2016 als "Opernhaus des Jahres" ausgezeichnet. Was war dafür entscheidend: der richtige Mix aus interessanten Stücken, Inszenierungen und hoher künstlerischer Qualität?

Albrecht: Genau das ist es. Man muss um eine hohe musikalische Qualität ringen, aber auch um eine anspruchsvolle Optik. Man muss die Stoffe immer neu und auf kluge Weise befragen. Wir haben in Amsterdam das Glück, dass weite Teile des Publikums sehr aufgeschlossen sind, neugierig auf neue Werke oder Sichtweisen. Wir bringen jedes Jahr etwas Zeitgenössisches, aber auch Klassiker der Moderne wie Wozzeck oder eben einen Henze. Das funktioniert an der Kassa nicht alles, aber dieses Risiko muss man eingehen.

STANDARD: Sie sind bis 2020 vertraglich an Amsterdam gebunden, hier in Wien kommt ab 2020 ein neuer Direktor an die Wiener Staatsoper. Würde sich da nicht ein Wechsel nach Wien anbieten?

Albrecht: Ich habe hier in Wien Ende der 80er studiert, war dann auch Assistent von Claudio Abbado. Ich war einige Zeit lang viel in der Staatsoper, habe im Opernstudio repetiert konnte überall rein, wenn ich wollte. Das war natürlich unvergesslich, und die Qualität der Repertoireaufführungen war manchmal unglaublich. Ja, die Wiener Staatsoper ist ein tolles Haus ... Ich kenne Herrn Roscic nicht persönlich, aber es wird wahrscheinlich einen Umbruch geben, ein kleines Update. In der Breite des Repertoires ist die Wiener Staatsoper einzigartig, aber man wird vielleicht mehr Risiko eingehen in Sachen der Werkauswahl und der Inszenierung. (Stefan Ender, 25.4.2017)