Suhal Sitzanin (Mitte) lernt mit Kindern aus Roma-Familien.

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Wien – "Das musst du alles morgen schon abgeben?" Suhal Sitzanin schaut ihre Nachhilfeschülerin mit hochgezogenen Augenbrauen an, überschlägt nach einem kurzen Blick auf die Uhr, wie viele von den Übungszetteln sie wohl heute noch schaffen können, und seufzt. Es ist kurz vor sieben Uhr Abends. "Ja, aber das schaff ich locker", entgegnet Angelina, die derzeit die dritte Klasse einer Neuen Mittelschule im vierzehnten Wiener Gemeindebezirk besucht. Sie und Sitzanin kennen sich seit der vierten Klasse Volksschule. Mindestens einmal wöchentlich sehen sich die beiden, vor Schularbeiten öfter.

Genau genommen ist Sitzanin keine Nachhilfelehrerin, sondern eine Lernhelferin. Sie arbeitet für das Romano Centro, einen der ersten Roma-Vereine in Österreich. Das Angebot richtet sich an Kinder aus Roma-Familien und soll die historisch gewachsenen Bildungsdefizite der Community ausgleichen. "Roma-Kinder landen oft in der Sonderschule, haben einen schlechten oder gar keinen Abschluss", berichtet Ferdinand Koller, pädagogischer Leiter des Romano Centro. Diese Einschätzung bestätigt auch eine Studie der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2015, im Zuge derer 94 Prozent der Bildungsabschlüsse der Roma als "gering oder mittel" erfasst wurden. Die Lernhelfer sollen den Kindern nicht nur schulische Unterstützung bieten, sondern auch Anlaufstelle für Fragen in Bildungsangelegenheiten sein. Jede Stunde kostet drei Euro, in Härtefällen gar nichts.

"Weißt du, was das heißt: frontal?", fragt Sitzanin. Die 13-jährige Angelina überlegt. Sie muss einen Zeitungsbericht lesen und anschließend die W-Fragen beantworten, es geht um einen Autounfall mit Todesfolge. Gemeinsam rekonstruieren sie, was Angelina vorgelesen hat, und versuchen, die Antworten herauszudestillieren.

Der Unterschied zum Niveau in einem Gymnasium ist frappierend. Sitzanin ist eine der wenigen, die beide Seiten kennt. Vor zehn Jahren saß sie noch an Angelinas Stelle. Heute steht ein Mag.ª vor und ein BA hinter ihrem Namen. "In der ersten Klasse Hauptschule war ich gefährdet in Mathe, in Englisch bin ich gerade noch so durchgekommen", erzählt sie. "Die Lehrer haben gemeint: Schau, dass du zu Nachhilfe kommst." Über Bekannte der Familie sind sie und ihre Mutter, eine Alleinerzieherin, auf das Angebot des Romano Centro aufmerksam geworden. Heute hat die 28-Jährige zwei Studien – Transkulturelle Kommunikation und Slawistik – abgeschlossen.

Vorbilder sind gefragt

Die Lernbetreuer sind meistens Studierende. Einige studieren Soziale Arbeit, andere Lehramt. Manchmal wird das Romano Centro auch von pensionierten Lehrern unterstützt. "Viele Lehramtsstudenten schätzen den Einblick, den sie durch diese Arbeit bekommen", sagt Koller. Soziale Benachteiligung, die an der Hochschule meist ein theoretisches Thema bleibt, bekomme hier eine praktische Ausgestaltung. Koller sieht in dieser Situation für beide Seiten einen Gewinn, denn auch die Studierenden könnten so wertvolle Erfahrungen machen. Die meisten bekommen eine Aufwandsentschädigung, einige arbeiten ehrenamtlich.

Elternzentriertes System

Das österreichische Schulsystem baue stark auf die Beteiligung der Eltern auf, meint Pädagoge Koller: "Bei Roma, die in Österreich leben, hat aber oft die ältere Generation wenig Bildung". Das treffe dann die Kinder, deren Eltern sich nicht so stark einbringen können. Sitzanin hat nicht nur als Erste in ihrer Familie studiert, sondern war auch die Erste, die überhaupt einen Schulabschluss erreicht hat. Es sind Welten, die Kinder dabei überspringen müssen. Irgendwie bewusst war Sitzanin das schon früh, auch wenn sie dieses diffuse Gefühl nicht immer ausbuchstabieren konnte. "Ich habe zu anderen Roma-Kindern Abstand gehalten, ich hatte fast nur österreichische Freunde", sagt sie. Früher hätte sie ihre Herkunft aus einer Roma-Familie nicht verraten, sie wollte sich nie outen.

Ihr Serbisch sei früher sehr schlecht gewesen, erzählt sie. Als sie von Professoren auf ihren vermuteten Roma-Hintergrund angesprochen wurde, hat sie sich geschämt, erzählt die junge Akademikerin, die mittlerweile bereits als Übersetzerin gearbeitet hat. "Aber inzwischen habe ich zwei Studienabschlüsse. Die Leute sollen es jetzt ruhig wissen."

Die Chancen, dass zu Suhal Sitzanins Ausnahmekarriere noch mehrere hinzukommen, steigen jedenfalls durch das Angebot des Romano Centro. Wie Angelinas Weg verlaufen wird, kann man jetzt noch nicht sagen. Bis vor kurzem wollte sie Kindergärtnerin werden, "aber dann bin ich draufgekommen, dass Kinder nervig sind", sagt sie. Aktuelles Ziel: Matura. Sitzanin, die, um sich neben dem Dolmetschen noch ein zweites Standbein aufzubauen, kürzlich ein drittes Studium – Englisch auf Lehramt – begonnen hat, wird sie in jedem Fall beraten können. Ob sie als Vorbild dient, wird sich weisen. Angelinas aktuelles Lieblingsfach: Englisch. (Vanessa Gaigg, 28.4.2017)