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Schon seit Wochen demonstrieren Gegner der Regierung von Michel Temer gegen die Sparpläne des brasilianischen Kabinetts. Am kommenden Freitag rufen sie die Bürgerinnen und Bürger zum Generalstreik – dem ersten Mal seit zwei Jahrzehnten.

Foto: Reuters / Nacho Doce

Das vergangene Jahr habe die Leute in Brasilien völlig überrollt, sagt Naidison de Quintella Baptista. "Es war, als ob wir Rauschgift bekommen hätten." Wie gelähmt hätten er und andere Vertreter der Zivilgesellschaft zugesehen, als nach Großprotesten der städtischen Mittelschicht die Mitte-links-Regierung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt wurde. Dann sei alles Schlag auf Schlag gegangen, sagt der einstige Theologe, der seit Jahrzehnten die Sozialorganisation ASA im Bundesstaat Bahia führt, zum STANDARD. Bevor sich Gegenprotest bilden konnte, waren viele soziale Errungenschaften gestrichen. Hilfen für Bauern wurden eingefroren, Ministerien, die für die Bildung der ärmeren Schichten zuständig waren, geschlossen.

Doch die Lähmung der Opposition soll nun vorbei sein. Am Freitag ist in Brasilien ein Generalstreik geplant, der erste seit 1996. Er richtet sich gegen ein Gesetz zur Streichung weiterer Sozialleistungen und von Arbeitsrechten. Auch die katholische Kirche meldet sich als Politikfaktor zurück. Bischöfe fordern die Gläubigen in Hirtenbriefen auf, den Streik zu unterstützen. Ähnliches gab es zuletzt während des Übergangs aus der Militärdiktatur.

Die Regierung hat nur geringe Zugeständnisse gemacht und ansonsten angekündigt, hart bleiben zu wollen. Sie sagt, Brasilien müsste vor dem Ruin gerettet werden. Der Staatshaushalt könne Sozialleistungen aus der Zeit Rousseffs und ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva nicht verkraften.

Unpopulär statt Populist

Der vormalige Vizepräsident Michel Temer war nach der Absetzung Rousseffs an die Macht gekommen, der vorgeworfen wird, das Budget geschönt zu haben. Auch er und viele seiner Minister sind der Korruption verdächtig. Doch das hat seine Regierung nicht daran gehindert, ein ambitioniertes Reformprogramm zu verfolgen. An erster Stelle steht ein Ziel: den Haushalt durch harte Einschnitte wieder in Balance zu bringen. Er sei "lieber unpopulär als ein Populist", sagte Temer dazu jüngst dem britischen Economist. Das scheint derzeit auch leichter erreichbar: Seine Zustimmungswerte liegen unter 30 Prozent. Viele Anhänger Rousseffs sprechen ihm überhaupt bis heute die Legitimität ab.

Ähnlich sieht es Quintella Baptista, der Temer als Kandidat jener Eliten betrachtet, die in Bahia jahrelang den Zugang der Armen zu Wasser und Land blockiert hätten. Erst 2002 begann die Regierung, Sozialprojekte der ASA zu fördern. Nach und nach war so Geld zusammengekommen, um eine Million Zisternen zu bauen. 4,5 Millionen Menschen sind nun nicht mehr von Zuwendungen abhängig, mit denen sich Politiker oft Stimmen erkauft hatten. Sie können das selten, aber wenn, dann heftig fallende Regenwasser selbst sammeln. Vor der Wahl fährt nicht mehr der Wassertruck vor.

"Jahrelang ist alles besser geworden"

Doch nun sei es mit dem Fortschritt vorerst vorbei. "Die Regierung hat in diesem Jahr keine einzige Zisterne mehr finanziert", sagt Quintella Baptista. Wenn nun gespart werde, so sein Eindruck, dann bei den ärmsten Brasilianerinnen und Brasilianern. Jenen, die nicht im vergangenen Sommer gegen die Regierung Rousseffs auf die Straße gegangen sind.

Dass er nun wieder stärker von Spenden abhängig ist, hat Quintella Baptista auch nach Wien geführt. Gemeinsam mit dem Oberösterreicher Harald Schistek, der mit der NGO Irpaa seit Jahrzehnten ähnliche Programme verwirklicht, trat er vor den entwicklungspolitischen Sprechern von SPÖ, ÖVP und Grünen im Parlament auf.

Doch eigentlich gehe es nicht ums Geld. "Jahrelang ist alles besser geworden", sagt er und zählt auf, was die Regierungen Lulas und Rousseffs als Erfolgsbilanz sehen: Kanalisation in Städten, gemeinnütziger Häuserbau, Hilfe für Bauern, Bildung für Ärmere. "Wir waren begeistert von der Entwicklung, wir glaubten, es gehe immer so weiter. Die Bewusstseinsbildung blieb dabei zurück." Das müsse sich ändern. Ärmere Gruppen sollten von ihren gesetzlichen Rechten erfahren.

Kein schneller Wandel

2018 wird in Brasilien wieder gewählt. Doch dass es mit dem Wandel so schnell geht, bezweifeln beide. Umfragen sehen Lula, der mit einem neuen Antritt spekuliert, deutlich voran. Ob es dazu kommt, ist unsicher. Rechte, Eliten und Massenmedien würden alles tun, um eine Kandidatur des Expräsidenten zu verhindern, vermutet Quintella Baptista. Ein Antritt ist auch deshalb fraglich, da auch gegen Lula wegen Korruption ermittelt wird. Er soll, lautet der Vorwurf, in ein Netz rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras verstrickt gewesen sein. Dieser habe im Gegenzug für die Vergabe öffentlicher Aufträge Gelder an die Arbeiterpartei überwiesen. (Manuel Escher, 27.4.2017)