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Die türkische Regierung inszenierte am Mittwoch die Festnahme von Polizisten, die sie der Nähe zu Prediger Gülen bezichtigt.

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Ankara/Athen – Die seit dem Verfassungsreferendum stark unter Druck stehende politische Führung in der Türkei hat zu einem neuen Schlag gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung ausgeholt. Bei einer der größten Razzien seit dem vereitelten Putsch vom Juli vergangenen Jahres nahm die Polizei am Mittwoch nochmals mehr als tausend Personen fest. Weitere Festnahmen sind zu erwarten: Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden dreimal mehr Haftbefehle ausgestellt.

Mehr als 9.000 Beamte wurden zudem suspendiert, weil sie Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben sollen. Die Suspendierung der insgesamt 9.103 Beamten sei "aus Gründen der nationalen Sicherheit" erforderlich, teilte die Polizei am Mittwochabend mit.

Ziel der landesweiten Razzia war die Polizei selbst, wie Innenminister Süleyman Soylu erklärte. "Geheime Imame" der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen hätten die türkische Polizei unterwandert. Säuberungswellen in Polizei und Justiz gibt es bereits seit drei Jahren. Ihr Umfang hat nach dem Putsch nur noch weiter zugenommen.

Kampfansage an Europarat

Auch nach außen gibt sich die Führung in Ankara kämpferisch. Staatschef Tayyip Erdoğan drohte einmal mehr mit dem Ausstieg aus den Beitrittsverhandlungen mit der EU. Den Beschluss des Europarats in Straßburg, die Türkei wegen ihrer Rückschritte bei der Demokratie wie schon bis 2004 wieder unter Beobachtung zu stellen, nannte Erdoğan "politisch motiviert"; man erkenne diese Entscheidung nicht an. Die Türkei riskiert damit letztlich die Suspendierung ihrer Mitgliedschaft in der 47-Staaten-Organisation.

Ankara sieht sich nun den Folgen des Konfrontationskurses gegen Europa ausgesetzt, den die religiös-nationalistische Führung mit Verhängung des Ausnahmezustands, Massensäuberungen und zuletzt einem möglicherweise manipulierten Volksentscheid über die Einführung eines Präsidialregimes fuhr. Die türkische Oppositionspartei CHP kündigte am Mittwoch nach dem Scheitern vor dem Verwaltungsgericht die Anfechtung des Ergebnisses des Referendums vor dem Verfassungsgericht an.

Kurz vor Beginn einer Debatte im Europaparlament am Mittwoch zog die Türkei-Berichterstatterin des Parlaments, die niederländische Sozialdemokratin Kati Piri, eine neue Linie. Mit einer solchen Verfassung könne die Türkei nicht EU-Mitglied werden, sagte Piri. "Es macht auch keinen Sinn, die Diskussionen über einen Beitritt fortzusetzen."

Die türkische Regierung und Präsident Erdoğan reagieren ebenso erbost wie konsterniert auf die Ansagen aus Brüssel und Straßburg. Sie wollten nach dem Verfassungsreferendum vom 16. April eigentlich selbst das Tempo der Abrechnung mit Europa bestimmen. Der knappe Ausgang des Volksentscheids überrumpelte aber Präsidentenpalast und Regierungspartei. Seither herrscht Konfusion. Vorgezogene Wahlen, um die Verfassung schneller in Kraft treten zu lassen, scheinen riskant.

Eine Kabinettsumbildung soll nun politischen Neubeginn nach dem Referendum signalisieren. Kolportiert wird der Wechsel von Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin ins Amt des Außenministers. Kalin, ein intellektueller Islamist, soll auch Ambitionen auf das Amt des Geheimdienstchefs haben. (Markus Bernath, red, 26.4.2017)