Jean-Claude Juncker trifft auf Theresa May: Kurz vor dem Brexit-Sondergipfel der 27 Mitgliedsstaaten hat die britische Premierministerin am Mittwoch in London mit dem EU-Kommissionspräsidenten (Foto) über weitere Schritte beraten. Das Treffen sei "konstruktiv" verlaufen, teilte Mays Büro mit.

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Es sind hektische Tage, die die EU-Außenminister und ihre Regierungschefs gerade zu absolvieren haben, um die Weichen für die langfristige Zukunft der Union zu stellen. Am Donnerstag trafen die Chefdiplomaten einander kurz in Luxemburg. Auf dem Verhandlungstisch lagen jene "Leitlinien" für die Staaten der EU-27, nach denen die Verhandlungen mit der britischen Regierung über den Austritt aus der EU bald geführt werden. Realistisch beginnen sie erst nach den Wahlen in Großbritannien am 8. Juni.

Es geht erstmals in der Geschichte um eine große geordnete Verkleinerung der Gemeinschaft, wirksam spätestens ab dem 29. März 2019, wie es in dem Dokument heißt, das dem STANDARD vorliegt. Bei einem kurzen EU-Gipfel am Samstag werden die Staats- und Regierungschefs ihre Bedingungen nach einem Arbeitsessen in Brüssel offiziell beschließen.

Fair und gerecht für alle

Grundtenor: Das "über allem stehende Ziel ist es, die Interessen der Bürger, der Wirtschaft und der Staaten der EU-27 zu wahren". Und es müsse einen Deal geben, der für alle Mitgliedsstaaten "fair und gerecht" sei. Potenziell großer Schaden, speziell für Briten, solle verhindert werden.

Und: Es dürfe keinerlei Ausscheren einzelner Länder geben. Michel Barnier als Verhandler der Kommission wird für alle Mitglieder mit London verhandeln. Erste Priorität müsse sein, dass die bestehenden Rechte von Millionen EU-Bürgern in den jeweiligen Gastländern dies- und jenseits des Ärmelkanals auch nach dem Brexit gesichert werden.

Die Gespräche werden zwei Jahre lang eine große Belastung für die Union sein. Und sie sind in Sachen EU-Mitgliedschaft nicht das Einzige, was für die Union in einer entscheidenden Phase ihrer Existenz jederzeit zur Zerreißprobe führen kann. Von Luxemburg aus flogen die meisten Außenminister gleich direkt weiter nach Malta zum lange geplanten Treffen zu einem anderen Krisenthema: Wie macht man weiter bei der EU-Erweiterung, und wie geht man vor allem mit der Türkei weiter vor?

Brexit-Modell für Türkei

Außenbeauftragte Federica Mogherini will über die Möglichkeit eines Abbruchs der Verhandlungen, die Alternative einer engen Partnerschaft, vielleicht einer ausgebauten Zollunion, reden lassen, was der zuständige Kommissar Johannes Hahn möchte. Beides – Brexit und Türkei-Frage – könnte am Ende zu einer neuen Strategie zur Entwicklung einer Kerngemeinschaft führen, die von einem losen Kreis von Nichtmitgliedern umgeben ist, mit denen man noch engere Wirtschaftsbeziehungen aufbaut, neben Briten und Türken auch mit der Schweiz oder mit Norwegen.

Die Leitlinien gehen an vielen Stellen auf diese Entwicklung ein und zeugen von der Bereitschaft, dafür eine maßgeschneiderte Lösung zu finden. Der Brexit als Modell.

Nach der Präsidentenwahl in Frankreich, den Parlamentswahlen in Großbritannien und dann in Deutschland im Herbst – den drei EU-Schlüsselländern – wird man wohl konkreter werden. Die Nervosität ist groß, an einigen Ecken gibt es erste kleine Scharmützel.

Berlin gegen bilaterale Gespräche

So behauptete Londons Außenminister Boris Johnson in Luxemburg, man hätte künftige Rechte und Pflichten der EU-Bürger in seinem Land schon regeln können, "wenn Deutschland das nicht abgelehnt hätte". Ein Trick. Berlin lehnte bilaterale Gespräche ab.

Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat Premierministerin Theresa May bei einem Treffen in London Mittwochabend verdeutlicht, was Sache sei: Jegliches "Rosinenpicken" sei ausgeschlossen. Ein Nichtmitglied der EU könne nicht die gleichen Rechte im Binnenmarkt haben wie die 27.

All das geht auch aus dem Leitlinienpapier hervor: Großbritannien solle ein "enger Partner" werden. Jedes Abkommen müsse ausbalanciert sein, mit Chancengleichheit für beide Seiten. Die Verhandlungen müssten "transparent und im Paket" geführt werden. Von London wird ein "aufrichtiges Verhalten" erwartet, wie es sich für ein EU-Mitglied gehört, solange der Brexit nicht vollzogen ist. Schließlich will man in Zukunft nicht nur keine "geschlossene Grenze" in Irland, sondern als EU mit den Briten auch auf der internationalen Ebene, bei Sicherheit und Verteidigung, im Kampf gegen den Terror, eng kooperieren. Und die Briten müssten auch in einem künftigen Freihandelsabkommen steuerliche, soziale, umweltbezogene Regulative der EU akzeptieren. Das alles erwarten die EU-27-Partner. Es wird eine komplizierte Scheidung. (Thomas Mayer aus Malta, 27.4.2017)