Nie zuvor wurde ein SPÖ-Chef am Festtag der Arbeiterbewegung derart ausgepfiffen: Der 1. Mai des Vorjahres führte zum Sturz Werner Faymanns – und sitzt den Genossen bis heute in den Knochen.

Foto: www.corn.at

Wien – Die Veranstalter taten ihr Bestes, um das Schlimmste zu verhindern. Am Vorabend des Events zogen sie eine Rolle Stacheldraht aus dem Verkehr, die in einem Gebüsch auf dem Rathausplatz versteckt war – verärgerte Genossen wollten den Parteichef samt Entourage am Weg zur Tribüne einsperren. Auch jene Funktionäre, die extra ein altes Taxi angemietet hatten, ließen sich noch aufhalten. Dem Vorsitzenden sollte per Plakat auf dem Dach die Rückkehr in den Jugendjob empfohlen werden: "Steig ein, Werner, der Fahrersitz ist frei!"

Bevor Werner Faymann an jenem 1. Mai ans Mikro trat, rechneten die Organisatoren von der Wiener SPÖ folglich zwar mit Pfiffen und roten Karten zur Begrüßung, dann aber doch mit einem geordneten Auftritt. Irrtum: Faymann stellte noch spontan die Rednerliste auf den Kopf und sich selbst vorzeitig vors Publikum, doch die Gegner ließen sich nicht übertölpeln. Vom ersten bis zum letzten Wort buhten sie den immer lauter dagegen anschreienden Obergenossen aus. Acht Tage später war Faymann als SP-Chef und Kanzler Geschichte.

"Mit Entsetzen im Gesicht" hat Christian Deutsch den Aufstand von der Tribüne aus verfolgt, so manchem Parteiveteranen, berichtet er, "standen die Tränen in den Augen". Schlicht "respekt- und kulturlos" hätten sich die Protestler gebärdet, "da wurde ein historisch erkämpfter Feiertag missbraucht". Im Rückblick dränge sich schon eine Frage auf, sagt der Landtagsmandatar, Faymann-Verteidiger bis zum bitteren Ende und darüber hinaus: "Was ist aus dem Team Haltung geworden?"

Trillerpfeife und Taferl

Worauf Deutsch anspielt: Jene, die mit Trillerpfeiferl, "Rücktritt"-Tafel oder eben "Team Haltung"-Buttons aufmarschiert waren, kreideten Faymann vor allem an, was als 180-Grad-Schwenk in der Asylpolitik in die Annalen eingegangen ist. In den Worten eines Funktionärs aus dem inneren Kreis: "Der Kanzler ist mehr oder minder vom ,Wir schaffen alles' zum ,Der Staat bricht zusammen' gesprungen – ohne das plausibel zu erklären."

Doch ein Jahr danach steht auch der heutige SPÖ-Chef Christian Kern zur Obergrenze für Flüchtlinge, damals Symbol für die neue Härte. Betreibt der Nachfolger denn eine andere Asylpolitik als jene, für die Faymann geprügelt wurde? Nicht alle, die sich einst hervorgetan haben, wollten dem STANDARD diese Frage offen beantworten. Mancher Gesprächspartner winkte ab, als die Rede auf das heikle Thema kam. Die SPÖ sei endlich wieder im Aufwind, erklärte ein vormaliger Kritiker aus dem Wiener Apparat: "Da reiße ich keine Wunden auf."

Wer unverblümte Auskunft sucht, wird vor allem beim roten Nachwuchs – eine treibende Kraft hinter den Anti-Faymann-Protesten – fündig. "Dass Kern in der Asylpolitik auf der linksliberalen Seite steht, hat sich nicht bewahrheitet", sagt Eva Maltschnig von der für ihre Aufmüpfigkeit berühmt gewordenen Sektion 8 aus Wien-Alsergrund: "Die SPÖ lässt sich von der ÖVP treiben."

Maltschnig hielt des Kanzlers Widerstand gegen die Ansiedlung von 1900 Asylwerbern im Zuge des EU-Relocation-Programms ebenso für "grob daneben" wie Laura Schoch, die eine rote Sektion in Mariahilf anführt: "Es ist beängstigend, wenn die FPÖ der Regierungspolitik nichts mehr entgegenzusetzen hat, weil alle ihre Forderungen erfüllt werden. Einen großen Unterschied zur Faymann-Linie sehe ich nicht."

Die Sozialistische Jugend will pünktlich zum 1. Mai ein Quiz online stellen: "Wer hat's gesagt: Strache, Kurz oder Doskozil?" Schließlich steige auch die SPÖ "voll auf die Rhetorik der FPÖ ein", findet SJ-Chefin Julia Herr.

Und dennoch: Ein Pfeifkonzert hat Kern am Montag mitnichten zu befürchten. Was anders ist? "Unter Faymann hat sich entladen, was sich lange angestaut hat", sagt Herr. "Die Asylfrage war letztlich nur der Aufhänger."

Entfesselter Zorn

Damals habe der Zorn eine Dynamik entfesselt, wie sie niemand gezielt organisieren hätte können, erinnert sich Schoch und hat das Bild eines sonst kulturbeflissenen Parteifreundes vor Augen, der dem Vorsitzenden einen nicht druckreifen Satz nach dem anderen entgegengeschleudert habe.

Auch sie selbst habe Faymanns Kurswechsel als persönlichen Affront empfunden, erzählt die Bezirksfunktionärin: Sie habe sich in der Flüchtlingshilfe engagiert und miterlebt, wie Michael Häupl mit Haltung den Bürgermeistersessel gegen Heinz-Christian Strache verteidigte – um dann zu sehen, wie die Prinzipien über Bord flogen. "Ein solcher Schwenk ist nie legitim, ohne die Partei zu fragen", sagt Schoch, "und Faymann hat jahrelang nie auf die Basis gehört".

Dies galt aus der Sicht der Kritiker umso mehr, als der Unmut nach einer schier endlosen Serie an Wahlniederlagen allmählich anschwoll. Von um sich greifender Bunkerstimmung berichtet ein Genosse, der die Führungsriege damals aus der Nähe erlebte. Wer vor dem drohenden Unheil warnte, den hätten Faymanns Adlaten mit Schönfärbereien bearbeitet, als gelte es den Chef in einem TV-Duell zu verteidigen. Als Provokation fassten die Verärgerten die autosuggestiven Parolen auf, die sich bald schon als lächerlich entpuppen sollten: Es sei nur eine kleine Minderheit, die dem Vorsitzenden am Zeug flickt.

Unbefriedigende Situation

Möglicherweise wäre die Lage auf dem Rathausplatz auch weniger eskaliert, hätten Verbündete Faymanns nicht selbst noch Schilder emporgereckt: "Werner, der Kurs stimmt." Dem Vernehmen nach sollen die Initiatoren sogar versucht haben, die Druckkosten der Bundespartei zu verrechnen – letztlich erfolglos.

Wagenburgmentalität? Gesprächsverweigerung? Faymann habe die eigene Politik in der Partei stets breit diskutieren lassen, widerspricht Gerhard Schmid. Auch die Asylfrage, sagt der damalige Bundesgeschäftsführer, habe manchem bloß als Vorwand gedient, "um ein Thema zu haben, mit dem sich der Parteichef angreifen lässt".

Letztlich sei diese Kritik nur Projektionsfläche für das Unbehagen über die unbefriedigende Situation in der Koalition mit der ÖVP gewesen: "Notwendig war Faymanns Ablöse nicht. Es gab in der Bevölkerung und in der Partei breite Zustimmung zur Asylpolitik, die viel mehr von einer humanitären Grundhaltung geprägt war, als das manche erkennen konnten oder wollten."

Debakel mit Ansage

Die Asylpolitik sei tatsächlich nicht der Kern der Sache gewesen, sagt auch Tanja Wehsely – doch damit ist die Gemeinsamkeit erschöpft. "Die radikale Wende war Schlusspunkt einer Entwicklung, die sich lange zusammengebraut und im Debakel bei der Präsidentenwahl gegipfelt hat", urteilt die Vizechefin im SPÖ-Rathausklub, die den "Team Haltung"-Sticker "mit Stolz" trug: "Niemandem in der Partei hat das Pfeifkonzert Spaß gemacht. Das war ein trauriges Ereignis, aber in gewisser Weise ein Akt der Notwehr."

Nein, auch heute sei die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung "kein Ruhmesblatt", fügt Wehsely an, "ich finde sie nicht gut. Punkt." Aber dafür weckten andere Inhalte, die der neue Parteichef propagiert, viel Sympathie: "Kern hat eine Strategie, verfolgt konkrete Projekte, er gibt uns Power und Elan. Das ist ein großer Unterschied zu früher."

Eva Maltschnig bewertet die Stimmung in den Parteireihen etwas prosaischer: "Viele Leut' sind einfach froh, dass die SPÖ in den Umfragen hinaufzieht." Dass sie deshalb selbst handzahm geworden sei, will sich die Sektion 8 nicht vorwerfen lassen. Gemeinsam mit Schoch und anderen hat Maltschnig dem Kanzler in einem offenen Brief die Meinung zum "unwürdigen Schauspiel" im Relocation-Theater gesagt.

Doch während Faymanns Abblocken jeder Kritik nur noch den Schluss zugelassen habe, dass unter diesem Vorsitzenden nichts mehr geht, gebe es nun wieder Anlass für Optimismus, befinden die Aktivistinnen. "Wir geben das Feld nicht verloren", sagt Schoch und verweist auf erfreuliche Akzente wie das jüngst beschlossene Integrationsprogramm. Maltschnig erkennt vielversprechende Signale für einen demokratischeren Umgang mit der Parteibasis – "auch wenn bisher noch wenig Konkretes passiert ist". Auspfeifen, sagt sie, "werden wir Kern am 1. Mai natürlich nicht".

Ungute Erinnerung

Das hatte sich die Sektion 8 schon bei Faymann vorgenommen. Um sich vom bloßen Ruf nach dem Köpferollen abzuheben, veranstalteten die kreativen Jungsozis eine fiktive Direktwahl des Parteichefs im Internet, zu der auch der Titelverteidiger nominiert wurde. Gebuht und gepfiffen haben einige Mitglieder der Truppe in der aufgeschaukelten Stimmung dann trotzdem – was bleibe denn auch übrig, wenn anders kein Durchkommen mehr sei?

Eines eint Gegner und Verteidiger des gestürzten Kanzlers in der Rückschau aber doch. "Tief auf der Festplatte" der Sozialdemokratie habe sich der 1. Mai 2016 eingraviert, sagt Faymann-Freund Deutsch – als ungute Erinnerung, die lange nicht vergessen werde. Maltschnig und ihren Mitstreitern sitzen die damaligen Szenen nicht weniger in den Knochen: "Cool fand das keiner. Wir waren hinterher alle bleich und völlig fertig."

Dem Adressaten des kollektiven Wutausbruchs soll es nach dem Abgang ins sichere Rathaus nicht anders gegangen sein. Doch rasch habe sich Faymann wieder eisern auf Business as usual verlegt, erzählt ein Augenzeuge. Während sich Hausherr Häupl mit einem "mir reicht's" heim nach Ottakring verzogen habe, sei der Kanzler zur üblichen Tour in den Prater aufgebrochen – als hätte das Maifest nie einen Makel gehabt. (Gerald John, 30.4.2017)