Snooker-Star Mark Selby mit Präzision bei der Arbeit.

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Sheffield – "Es war kein großer Unterschied. Wären ein oder zwei Bälle anders gelaufen, dann hätte vielleicht er gewonnen. Aber so wurde es mein Tag." Mark Selby gesteht seinem chinesischen Kontrahenten nach der Partie nicht nur zu, ein ebenbürtiger Gegner gewesen zu sein. Er konstatiert auch, dass Ding Junhui sich seit dem Finale des letzten Jahres, in dem die beiden ebenfalls aufeinandergetroffen waren, in jeder Hinsicht weiterentwickelt habe: "Er ist als Spieler gereift, und auch als Mensch."

Das Gewicht der bunten Bälle

Von der Lockerheit, mit der Mark Selby im Nachhinein über die Möglichkeit einer Niederlage spricht, ist kurz zuvor am Snookertisch natürlich noch nichts zu spüren. Man merkt in dieser letzten Session in jedem Moment, wie sehr der Weltmeister diesen Sieg will, dass er alles dafür zu geben bereit ist. Zu Beginn der Session klappen die langen Roten für Ding Junhui zunächst nicht so, wie noch am Vorabend, als der Chinese den Stand zum 12:12 ausgleichen konnte. Das versteht Selby perfekt auszunutzen, der pro Frame zumeist nicht mehr als eine gute Gelegenheit braucht, um den Tisch vom Gewicht sämtlicher bunter Bälle zu befreien.

So erarbeitet sich der Weltmeister nach und nach wieder jenen Vorsprung, den er am Vortag verloren hatte. Als er dann den hart umkämpften 29. Frame zum 16:13 gewinnt, scheint das Feuer des chinesichen Drachen gelöscht. Immerhin müsste Ding nun vier Frames in Folge gewinnen, um das Match doch noch für sich zu entscheiden – gegen Weltmeister Selby eine schier übermenschliche Aufgabe.

Die chinesische Prüfung

Ding Junhui aber scheint vor keiner Sisyphos-Arbeit zurückzuschrecken: Immer wieder rollt er den weißen Spielball mit perfekt abgezirkelten Safetys zurück an die Fußbande und verwehrt Mark Selby damit Stoß um Stoß die Chance auf den letzten noch fehlenden Framegewinn. Zuerst steht es 14:16, dann 15:16. Da beginnt auch das Publikum zu spüren, dass die Riesensenation jetzt nicht mehr weit entfernt ist. Wenn Ding Junhui noch der Ausgleich zum 16:16 gelingt, er Mark Selby in den Decider zwingt – dann hätte "The Dragon" in diesem allerletzten Frame das Momentum eindeutig auf seiner Seite.

"The Jester from Leicester" gibt an diesem Nachmittag aber nicht den Spaßmacher, sondern den Spielverderber. Als Ding ein blauer Ball auf die Mitteltasche misslingt, eröffnet sich die eine Chance, auf die der Weltmeister seit drei Frames geduldig gewartet hat. Behutsam stückelt er sich sein Break zusammen und nimmt sich vor den entscheidenden Stößen besonders viel Zeit, um jetzt nur keinen Flüchtlichkeitsfehler mehr zu begehen.

Als er den Sack mit einer Schwarzen in die Ecktasche zu macht, brüllt Selby seine angestauten Emotionen heraus und verpasst eine gelochte Rote später auch noch der Bande einen heftigen Faustschlag der Erleichterung. Er hat in diesem Semifinale hart kämpfen müssen. Aber der Weltmeister hat die chinesische Prüfung am Ende ein weiteres Mal glänzend bestanden.

Schottische Routine

Im zweiten Halbfinale ist eigentlich schon nach der Vormittagssession alles klar: Während Barry Hawkins sein Spiel weiterhin nicht in den Griff bekommt, gelingt es John Higgins im Unterschied zum Vortag, aus den zahlreichen Fehlern seines Gegners reichlich Kapital zu schlagen. Bei 16:7 für Higgins hat der Schotte sogar die Chance, das Halbfinale ohne die vierte und letzte Session für sich zu entscheiden und sich damit eine längere Erholungspause vor dem Finale zu gönnen. Mit seinem erst zweiten Framegewinn in dieser Session rettet sich "The Hawk" aber doch noch in die letzte Partiephase. Die verläuft dann kurz und schmerzlos: John Higgins gewinnt den ersten Frame nach Wiederaufnahme und qualifiziert sich damit für das Finale, in dem er – sechs Jahre nach seinem letzten Triumph – den fünften WM-Titel holen und damit mit Ronnie O’Sullivan gleichziehen könnte.

Auch wenn Selby Favorit ist: Eine klare Steigerung ist dem mit allen Wassern gewaschenen schottischen Routinier im Finale auf jeden Fall zuzutrauen. Immerhin weiß er, wie es sich anfühlt, ein WM-Finale gegen Mark Selby zu gewinnen. Vor zehn Jahren trafen sich die beiden schon einmal am Finaltisch des Crucible Theatre zu einer längeren Partie Snooker. John Higgins hatte damals das bessere Ende für sich. (Anatol Vitouch aus Sheffield, 29.4.2017)