John Higgins könnte nach 1998, 2007, 2009 und 2011 seinen fünften WM-Titel einfahren.

Foto: : imago/Xinhua

Mark Selby am Grübeln.

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Sheffield – Irgendwann liegt Mark Selby an diesem Sonntag Abend dann so weit zurück, dass ihn sogar das Publikum zu unterstützen beginnt. Dabei hatte sich die Mehrheit der Zuschauer von Beginn des Matches an ebenso eindeutig für John Higgins deklariert, wie für Selbys Halbfinalgegner Ding Junhui an den Tagen zuvor.

Dass sich Weltmeister Selby seinen schlechten Tag bei dieser WM aber ausgerechnet fürs Finale aufgehoben hat, erweicht die Herzen der Fans dann doch. Außerdem will das Publikum im Crucible Theatre jenes "epic final" sehen, das ihnen Einpeitscher Rob Walker versprochen hat. Spätestens beim Zwischenstand von 10:4 sieht es jedoch so aus, als ob dieses Finale in wenig epischer Manier schon in der zweiten Session auf eine Vorentscheidung zusteuert.

Bröckelnde Mauer

Am Vortag schien die große Frage noch zu sein, ob John Higgins sich so weit steigern kann, dass er für Mark Selby einen einigermaßen ebenbürtigen Gegner abgibt. Spätestens nach dem Midsession Interval der Nachmittagssession wird klar: Es ist der Weltmeister, der sich hier steigern muss, und zwar deutlich.

All das, was Selby im allgemeinen und sein Spiel bei dieser WM im speziellen bisher ausgezeichnet hat, wirkt auf einmal wie weggeblasen. Selbys Safetys sind zahnlos bis ungenügend, beim Lochspiel unterlaufen ihm elementare Fehler, und die langen Roten gehen nicht einmal knapp daneben. Zu keinem Zeitpunkt strahlt der Mann aus Leicester, der aus güten Gründen sonst auch "The Wall" genannt wird, jene Unantastbarkeit aus, mit der er selbst stärkste Konkurrenz normalerweise das Fürchten lehrt.

Selbys Comeback

Und ohne die Leistung von John Higgins schmälern zu wollen: Es ist nicht sein Spiel, das Selby zu diesen Aussetzern zwingt. Zwar gelingen dem vierfachen schottischen Weltmeister ein paar schöne Breaks. Er streut aber auch immer wieder die Art von Fehlern ein, die man gegen Mark Selby üblicherweise teuer bezahlt. Nicht so an diesem ersten Finaltag: Was immer John Higgins auch misslingen mag, Mark Selby unterläuft bald darauf Schlimmeres.

Nach dem Midsession Interval der Abendsession sieht es tatsächlich so aus, als ob Selby dabei wäre, die Partie innerlich abzuschreiben. So negativ und resigniert wirken Körpersprache und Mimik des Weltmeisters, der vor Beginn der Partie doch als haushoher Favorit gegolten hatte. Aber: Just als das Publikum in sein Lager zu wechseln beginnt, rappelt Selby sich noch einmal auf. Einen umkämpften Frame nach dem anderen entscheidet er für sich, bis es am Ende der zweiten Session plötzlich nur mehr 10:7 für John Higgins steht.

Letzte Chance

Kann Mark Selby am zweiten Finaltag zu seiner Normalform zurückfinden? Wenn ja, dann sollte der Rückstand von drei Frames noch nicht zu groß sein. Immerhin werden zum Sieg 18 gewonnene Frame benötigt. Eine weitere verkorkste Session kann sich die Nummer eins der Welt morgen aber jedenfalls nicht mehr leisten. Sonst muss er seinem acht Jahre älteren Kontrahenten Montag Abend zum fünften WM-Sieg gratulieren, anstatt den Pokal selbst zum dritten Mal stemmen zu dürfen. (Anatol Vitouch aus Sheffield, 1.5.2017)