Bild nicht mehr verfügbar.

In Deutschland ist die Beschäftigung mit beinahe 45 Millionen Arbeitenden so hoch wie noch nie, allerdings ist auch der Niedriglohnsektor so groß wie kaum woanders.

Foto: REUTERS/Thomas Peter

Wenn Martin Gleitsmann (STANDARD, 27. 4. 2017) empfiehlt, sich bei Arbeitsmarktreformen ein gutes Beispiel an Deutschland zu nehmen, dann ist klar, auf welche Reform er sich bezieht: Ohne sie beim Wort zu nennen, geht es um die Hartz-IV-Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt deregulierten, Sanktionen für Arbeitslose weiter verschärften und gesetzliche Regelungen für Ein-Euro-Jobs und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse geschaffen haben. Hartz IV hat zu mehr Armut und sozialer Ausgrenzung und zu einem Endloshamsterrad ohne Perspektiven geführt: Aus armen Arbeitslosen wurden arme Erwerbstätige.

Der deutsche Soziologe Klaus Dörre nennt das einen "Fahrstuhleffekt nach unten". Laut Eurostat arbeiten in Deutschland mittlerweile 22,5 Prozent der Beschäftigten nur mehr für einen Niedriglohn. In Österreich sind es 14,8 Prozent, wobei Frauen deutlich stärker davon betroffen sind (8,7 Prozent der Männer und 23,1 der Frauen). Ganz anders ist das Beispiel Schweden, wo es mit 2,6 Prozent den geringsten Anteil von Niedriglohnempfängern innerhalb der EU gibt, was zeigt, dass es kein Naturgesetz, sondern eine Frage des politischen Willens und sozialen Gewissens ist, ob es so einen Sektor gibt oder nicht.

Qualität gefragt

In der Arbeitsmarktpolitik muss es um qualitätsvolle Jobs gehen, von denen Menschen auch leben können. Österreich hat über 30 Jahre professionelle und erfolgreiche Erfahrung bei der Integration von arbeitsmarktfernen Menschen durch echte Beschäftigung in Sozialen Unternehmen. Und: Die deutschen Nachbarn scheinen sich derzeit eher ein Beispiel an Österreich zu nehmen: Frank-Jürgen Weise, der ehemalige Leiter der deutschen Bundesagentur für Arbeit, forderte in seinem Abschiedsinterview (Süddeutsche, 24. 3. 2017) eine Abkehr von Hartz IV: "Wir sollten für Langzeitarbeitslose ohne Qualifikation, die auf dem normalen Jobmarkt keine Chance haben, einen staatlich subventionierten Arbeitsmarkt für sie schaffen. Wir bezahlen ihnen Arbeit, statt ihnen Hartz IV und die Wohnkosten zu zahlen." Das würde "nicht viel teurer", so Weise. Er spricht von "einem großen Wurf", der es wert wäre, ausprobiert zu werden.

Genau diesen großen Wurf wird Österreich bereits in nächster Zeit beschließen: Die Aktion 20.000 sieht vor, dass ab Juli 2017 für 20.000 langzeitarbeitslose Menschen über 50 Jahren zumindest für zwei Jahre Arbeitsplätze in Gemeinden, bei gemeinnützigen Organisationen und Sozialen Unternehmen geschaffen werden. Der größte Teil der Kosten wird durch eingesparte Arbeitslosengelder finanziert. Auch von den restlichen Kosten fließt ein beträchtlicher Teil – beispielsweise durch Sozialversicherungsabgaben – wieder zurück an den Staat.

Das Besondere an der Aktion 20.000 ist, dass alle eingeladen sind, über sinnvolle und produktive mögliche Arbeitsplätze nachzudenken: AMS-Regionalgeschäftsstellen gemeinsam mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und Sozialen Unternehmen. Gerade Soziale Unternehmen bündeln Erfahrungswissen über regionale Arbeitsmärkte und Know-how beim Thema Beratung, Beschäftigung und Integration von langzeitarbeitslosen Menschen. Viele von diesen gemeinnützigen Unternehmen sind übrigens auch Mitglied bei der Wirtschaftskammer. Warum nicht den Fahrtendienst, den Soziale Unternehmen in mobilitätsarmen Gemeinden ihren Mitarbeitern anbieten, für ältere Bürger öffnen? Warum nicht das Schulsekretariat ganztags besetzen, damit Schulräume länger und vielfältiger nutzbar sind? Warum nicht Postdienstleistungen in Soziale Unternehmen integrieren, die gleichzeitig auch Kaffee, Mittagessen und Beratung anbieten?

Das ist keine künstliche Beschäftigung, das ist echte Beschäftigung, die sich am Gemeinwohl orientiert und von der alle gleichermaßen profitieren können. Beschäftigung, die Sinn macht und Sinn gibt. Menschen, die in Hartz IV arbeiten, sind gesellschaftlich nicht mehr respektiert, sie werden missachtet. Die Aktion 20.000 will genau das Gegenteil: Menschen, die über 50 sind und auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben, sinnvolle, menschenwürdige und existenzsichernde Arbeit geben. Arbeit, die gebraucht wird und die zu mehr Resonanz und Selbstwirksamkeit führen wird, also dem Gefühl, lebendig zu sein, und letztlich auch den sozialen Zusammenhalt fördert. Trauen wir uns und probieren wir das aus – und laden wir unsere Nachbarn ein, von uns zu lernen. (Judith Pühringer, 2.5.2017)