Berlin in den Goldenen 1920ern: Tom Tykwers TV-Serie "Babylon Berlin", ab Oktober auf Sky.

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Im stets um die eigene Kultur bedachten Frankreich hat diese Entscheidung etwas von einem Tabubruch. Erstmals in der Geschichte des prestigeträchtigen Filmfestivals von Cannes (17.–28. Mai) werden zwei von Netflix produzierte Filme im Wettbewerbsprogramm laufen. Nicht an der Qualität der Filme von Noah Baumbauch ("The Meyerowitz Stories") und Bong Joon-ho ("Okja") entzündet sich die Diskussion, vielmehr bietet die Distributionslogik des US-amerikanischen Video-on-Demand-Anbieters (VoD) Anlass für Kritik.

Denn Netflix wird sich nicht an das in Frankreich geltende Gesetz einer 36-monatigen Sperrfrist zwischen Kinoauswertung und VoD-Release halten – für ein globales Unternehmen eine halbe Ewigkeit. "Netflix trampelt auf den roten Teppich", unter diesem Titel beschwört "Le Monde" das Schreckensszenario eines Goldene-Palme-Gewinners, der Netflix-Abonnenten vorbehalten ist.

Aneinanderrücken von Veröffentlichungen

Bei der länderübergreifenden Konferenz Incontri der Südtiroler Filmförderung (IDM), die Ende April in Bozen abgehalten wurde, konnte man allerdings anhand aktueller Beispiele sehen, dass die enge Einbeziehung unterschiedlicher Distributionsformen nicht nur in der Produktion von Qualitätsserien längst Wirklichkeit ist. Das Aneinanderrücken von früher stärker zeitlich getrennten Veröffentlichungen hat sogar zu neuen Produktions- und Firmenmodellen geführt.

Marc Schmidheiny von der deutschen DCM Film Distribution, zu deren Firmenkonglomerat auch der Delphi-Filmverleih gehört, plädierte auf der Konferenz für kürzere Zeitspannen zwischen Kino- und VoD-Release; kein Wunder, da seine Firma beide Felder beackert – mit so diversen Arbeiten wie dem Jugendfranchise "Bibi und Tina" und dem Oscar-Gewinner "Moonlight".

Tatsächlich geht es bei diesen Fragen weniger darum, wie wir in Zukunft Filme sehen, als darum, welcher Zugang dafür Voraussetzung ist. Diversität und ökonomische Unabhängigkeit sind nur mit einem auf Ausgleich zielenden Vertriebsmodell zu haben – ansonsten wird Kino, wie wir es bisher kannten, eine unübersichtliche Angelegenheit.

Dass das klassische Modell an allen Ecken und Enden bröckelt, davon legt gegenwärtig auch die Diskussion um einen EU-weiten digitalen Binnenmarkt Zeugnis ab. Der von der EU-Kommission vorgelegte Plan sieht vor, regionale Exklusivitäten wie etwa Herkunftsland-Sonderregelungen abzuschwächen – ein Sender bekäme etwa die Möglichkeit, eine Film- oder TV-Produktion online gleich europaweit auszustrahlen.

Widerstand gegen die EU

Der Widerstand dagegen ist beträchtlich und vereint sogar gegnerische Linien. In einem offenen Brief haben sich 411 Organisationen jüngst gegen dieses Modell ausgesprochen, darunter Hollywood-Lobbyisten, große europäische Film- und Vertriebsunternehmen wie AMC Europe bis hin zum renommierten British Film Institute. John Lüftner, von der heimischen Produktionsfirma Superfilm ("Braunschlag"), kann die Chancen dieser Initiative auch nicht erkennen: "Die territoriale Exklusivität der Rechte ist die entscheidende Basis der Finanzierung europäischer Film- und TV-Produktionen." Auch wenn es derzeit nur um eine Art "Reisefreiheit" von erworbenen Lizenzen des Zuschauers gehe, befürchtet er, "dass dies zur Erosion des Gefüges führen wird".

Selbst komplexe Koproduktionsmodelle, die Förderer unterschiedlicher Länder einbeziehen, könnten davon nicht unbeeinträchtigt bleiben. In Italien hat sich beispielsweise mit Visions Distribution ein gleich aus vier Produktionsfirmen bestehender, potenter Akteur aufgestellt, der exklusiv mit dem Pay-TV-Sender Sky kooperiert – möglicherweise schon eine Gegenmaßnahme, um den Ausfall internationaler Partner abzufedern.

Dessen CEO Nicola Maccanico verkauft die Initiative vor allem damit, die regionale Produktion stärken zu wollen, Innovation und Wettbewerb finden bei Visions schon innerhalb der eigenen Firmenkonstruktion statt. Ähnliche Großproduktionen im Serienbereich wie Tom Tykwers "Babylon Berlin" über das Berlin in den Goldenen 20er-Jahren oder die aufwendige Adaption der Romane von Elena Ferrante setzen auf die Verschränkung von Mittel öffentlicher Sender und Pay-TV.

Das Zauberwort, das bei Incontri mehrmals fiel, ist eine optimierte Ausrichtung auf das Publikum, das früher und gezielter einbezogen werden soll, als dies etwa das breiter operierende Fernsehen verlangt. Offen bleibt freilich, an welchem Kanal dieses Publikum dann noch anzutreffen ist. (Dominik Kamalzadeh aus Bozen, 4.5.2017)