Kinopionierin: Germaine Dulac.


Foto: Filmarchiv Austria

Wien – "Ich verstand das Kino mehr und mehr als etwas, das nicht eine dramatische Handlung beschreibt oder durch eine Geschichte Interesse weckt, sondern als etwas, was die Unbegrenztheit der sinnlichen Eindrücke widerspiegelt." Was die französische Filmemacherin Germaine Dulac rückblickend als Ziel beschreibt, war nichts weniger als die scheinbar unbegrenzte Möglichkeit einer neuen Filmsprache. Für Dulac war dieses Anliegen in den frühen 1920er-Jahren eine Frage der Emanzipierung des – zu dieser Zeit noch relativ jungen – Mediums: "Ich entfernte mich immer weiter von den Konzepten des Theaters, um mich der rhythmischen Kunst anzunähern."

Anhand der Retrospektive, die das Filmarchiv Austria für die Stummfilmregisseurin und Kinopionierin ausrichtet, kann diese Entwicklung studiert werden. Als Dulac, geboren 1882 in Amiens, sich unter der männerdominierten Filmszene von Paris einen Namen machte, hatte der Erste Weltkrieg im politischen und künstlerischen Europa keinen Stein auf dem anderen gelassen. Dulac nahm diesen Umbruch in ihren Arbeiten nicht nur auf, sondern wurde ein Teil davon: Die alten Regeln waren für sie zu Vorschriften geworden, die es zu brechen galt. Der Surrealismus ersetzte als Gebot der Stunde auch auf der Leinwand die klassische Erzählung durch das Rauschhafte, das Unbewusste, und das Kino diente ihm als enger Verbündeter.

In Madame Beudets sonniges Lächeln (1922), eine Adaption Dulacs nach dem gleichnamigen Theaterstück, sind diese ersten Zeichen der Avantgarde bereits deutlich zu erkennen. Es ist die Geschichte einer mit einem Tuchhändler verheirateten Frau, die es vorzieht, ihren ohnehin nur am schönen Gretchen interessierten Mann nicht in den Faust zu begleiten. Stattdessen steckt sie dem Hausherrn eine Patrone in den Revolver, den sich dieser oft zum Spaß seiner Gäste an die Schläfe setzt. Doch weniger als für das dramatische Verhängnis interessiert sich Dulac für den gescheiterten Ausbruch ihrer Protagonistin aus ihrem bürgerlichen Gefängnis: Mittels Doppelbelichtung betritt ein von Madame bewunderter Tennisspieler den Salon und trägt den Ehemann am Kopf davon, während Überblendungen und eine innovative Schnitttechnik die Wirklichkeit zunehmend mit Traumsequenzen konterkarieren.

Erotische Fantasien

Dulac, auch als Journalistin und Filmtheoretikerin tätig, gilt heute mit Arbeiten wie Die Einladung zur Reise (1927), in dem sich eine Ehefrau und Mutter in einer Hafenbar unglücklich unter Matrosen mischt, als Wegbereiterin eines feministischen Kinos. Dulac förderte das Unaussprechbare, das die gesellschaftlichen Konventionen Überschreitende zutage, indem sie auch die filmische Konventionen missachtete.

Für Antonin Artaud, der ihr die Verfilmung von Die Muschel und der Kleriker (1928) überantwortete und dem Dulac dennoch die Hauptrolle verweigerte, aber nicht radikal genug. Dabei ist das erste surrealistische Werk der Filmgeschichte – noch vor Luis Buñuels Klassiker Ein analusischer Hund – ein meisterhaftes Vexierspiel, das sich jedem Versuch der Entschlüsselung entzieht. Von erotischen Halluzinationen verfolgt, kriecht ein Geistlicher auf allen Vieren durch die Straßen von Paris, um der Frau eines hochdekorierten Generals den Büstenhalter herunterzureißen und diesen in eine Muschel zu verwandeln.

Legendär das Verbot durch die britische Filmzensur: "Dieser Film ist offenbar sinnlos, wenn er aber irgendeinen Sinn hat, ist dieser gewiss anstößig." Mithin ein Film, der bis heute nichts von seiner Kraft eingebüßt hat. (Michael Pekler, 5.5.2017)