Tausende Menschen demonstrierten am 1. Mai in Seoul für bessere Arbeitsbedingungen und einen höheren Mindestlohn. Der Internationale Gewerkschaftsbund listet Südkorea bei der Wahrung von Arbeitnehmerrechten in der weltweiten Schlussgruppe auf – neben China, Bangladesch und Saudi-Arabien.

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Es ist erst wenige Wochen her, da hat Areum Kim* gemeinsam mit ihren Kollegen eine Bürorevolution angezettelt. Die 27-jährige Südkoreanerin arbeitet in einer staatlichen Behörde, doch von Beamtengemütlichkeit kann dort gar keine Rede sein. An einem dieser Tage, als das Team wieder bis Mitternacht unbezahlte Überstunden ableistete, beschlossen sie endgültig, dass es so nicht weitergehen kann. "Zum ersten Mal haben wir es gewagt, unseren Chef zur Rede zu stellen", erinnert sich Kim.

Lange Arbeitszeiten der Normalfall

Am nächsten Morgen also hörte sich ihr Teamleiter, ein Familienvater im mittleren Alter, geduldig die Beschwerden seiner Mitarbeiter an. In geradezu stoischem Tonfall entgegnete er: "Musstet ihr jemals in eurem Leben eine Nacht lang durcharbeiten? Habt ihr je vor lauter Stress Nasenbluten bekommen?" Als niemand in der entgeisterten Runde darauf etwas zu erwidern wusste, sah Kims Chef das Thema für erledigt an. Die Angestellten gingen geschlagen an ihre Schreibtische zurück.

Der Internationale Gewerkschaftsbund listet Südkorea bei der Wahrung von Arbeitnehmerrechten in der weltweiten Schlussgruppe auf – neben China, Bangladesch und Saudi-Arabien. Gleichzeitig wird in kaum einem anderen OECD-Land so lange gearbeitet – 2113 Stunden im Jahresdurchschnitt. Damit liegt die Arbeitszeit im ostasiatischen Tigerstaat um etwa ein Viertel höher als in Österreich.

Früher Feierabend – für Auserwählte

Arbeitseifer ist ein Wert, der in der konfuzianischen Gesellschaft ungemein geschätzt wird. Mithilfe von Fleiß und Patriotismus hat sich Südkorea schließlich innert einer Generation vom bitterarmen Agrarstaat zur asiatischen Weltspitze hochgeschuftet. Längst jedoch fordert die junge Generation – aufgewachsen in Demokratie und Wohlstand – nicht nur satte Gehaltsschecks, sondern auch Selbstverwirklichung und Work-Life-Balance ein.

Mit April hat die südkoreanische Regierung nun eine Empfehlung herausgegeben, die die Angestellten staatlicher Betriebe jeden letzten Freitag des Monats bereits um vier Uhr in den Feierabend entlässt. Angelehnt an den japanischen "Premium Friday" wird die Direktive vorerst jedoch nur in einigen ausgewählten Behörden ausprobiert. Der Maßnahme ging zunächst eine hitzige Debatte über den Gesundheitszustand der südkoreanischen Beamten im Land voraus.

Besonders ein tragischer Fall dominierte die Schlagzeilen der Tageszeitungen. Eine 34-jährige Mutter von drei Kindern erlitt Ende Februar einen tödlichen Schlaganfall – nur eine Woche nachdem sie vom Mutterschutz in den Staatsdienst zurückgekehrt war. Sie starb ausgerechnet an einem Sonntag, an dem sie wie gewöhnlich um fünf Uhr morgens ins Büro ging, um sich am Nachmittag um ihre Familie kümmern zu können. Viele Kritiker werteten ihren Tod als erneuten Beweis, wie die patriarchale Gesellschaft mit ihren berufstätigen Müttern umgeht. Gleichzeitig leidet Südkorea unter der niedrigsten Geburtenrate der Welt.

Verbeugungen vor den Älteren

Der Mittdreißiger Pablo Munoz* hat die Arbeitskultur Südkoreas als Expat erlebt. Als einer der wenigen Ausländer heuerte er bei einem südkoreanischen Chaebol an. So werden die familiengeführten Mischkonzerne genannt, deren zehn größte Vertreter über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts generieren. Ihnen ist gemein, dass sie meist in den unterschiedlichsten Branchen tätig sind – von Mikrochips über Lebensmittelproduktion bis hin zur Schwerindustrie. Für junge Südkoreaner gilt es als Ritterschlag, einen Arbeitsvertrag bei einem Chaebol à la Samsung und LG zu unterschreiben. Wer jedoch Munoz' Schilderungen lauscht, der fühlt sich eher an eine Mischung aus Militärkorps und Studentenverbindung erinnert.

"Das Erste, was dir förmlich ins Gesicht schlägt, ist die extreme Hierarchie", sagt Munoz in einem Seouler Café. Nach mehreren Jahren kann er sich noch immer nur schwer an die morgendliche Runde durchs gesamte Großraumbüro gewöhnen, bei der er jeden älteren Kollegen mit einer Verbeugung begrüßen muss.

Der nächste Kulturschock folgte bei der Aushandlung der Ferienzeiten. Per Gesetz stehen Munoz 15 freie Tage zu, so steht es schließlich auch im Vertrag. Nach dessen Unterzeichnung wurde ihm jedoch klargemacht, dass er maximal fünf davon in Anspruch nehmen dürfe. In einem Vier-Augen-Gespräch mit der Personalabteilung erklärte ihm ein höhnisch lachender Vorgesetzter, dass dies nun einmal so Usus sei. Als Munoz zur Antwort ansetzen wollte, verließ der Personaler kommentarlos den Konferenzraum.

Saufen mit dem Chef

Die vielleicht verstörendsten Erfahrungen sammelte Munoz aber während der verpflichtenden Feierabendgelage, auf Koreanisch "hoe-shik" genannt. Diese erfolgen stets nach einem festgelegten Ritual: Während der ersten Runde trifft sich das Team gemeinsam zu Schweinefleisch und Soju-Schnaps in einem Grillrestaurant. Für die zweite Runde wird eine Bar gebucht, die Fassbier und Fingerfood serviert. Anschließend werden die ausländischen Mitarbeiter höflich ins Taxi gesetzt. "Was in der dritten Runde passiert, höre ich am Morgen vom Tratsch meiner Kollegen." Firmenbesuche in "Room-Salons", getarnte Bordelle, seien durchaus üblich.

Nach zwei Jahren Einsatz in Südkorea wird der Spanier in wenigen Wochen die Kündigung einreichen, erzählt er. Das Flugticket in die Heimat ist bereits gebucht. Ob er an einen Wandel der koreanischen Arbeitskultur glaubt? "Erst seitdem wir in meiner Abteilung angefangen haben, auch Frauen einzustellen, haben sich die militärischen Beziehungen etwas aufgeweicht", sagt Munoz. (Fabian Kretschmer aus Seoul, 9.5.2017)

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.