Ali Gedik (links) im Lokal des Wiener Gastronomen Garip Gündogdu. Beide sind Kurden aus der Türkei. Niemand könne verlangen, dass man die Wurzeln vergisst, sagt Gedik, der seit 41 Jahren in Wien lebt.

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Der Richter hat keinen Zweifel. Der Angeklagte habe genau gewusst, dass es sich um eine Kurdendemonstration handelte, als er im Jänner 2016 bei Tulln in Niederösterreich eine Polizeisperre durchfuhr und sich mit seinem SUV dem Demonstrationszug, der auf der Bundesstraße B1 unterwegs war, annäherte. Dass er seinen SUV auf die Fahrspur des Demonstrationszugs lenkte und zwei der Aktivisten verletzte, sei kein Versehen gewesen, sondern volle Absicht. Die Folge: drei Jahre teilbedingter Haft für den in Niederösterreich lebenden Türken. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Es ist ein hartes Urteil für einen Unbescholtenen, das am Mittwoch am Landesgericht St. Pölten von einem Schöffensenat gefällt wurde. Man wolle damit auch ein Zeichen der Abschreckung setzen, so das Gericht. Dass der Angeklagte die Demonstranten vor der Tat als "Terroristen" und deren Kundgebung als "eine Frechheit" bezeichnet hatte, unterstrich seine politische Motivation.

Angst vor Übergriffen

Übergriffe gegen Kurden in Österreich werden zunehmen, damit rechnet Hüseyin Akmaz von Feykom, dem Dachverband der kurdischen Vereine in Österreich. "Immer dann, wenn die Spannungen in der Türkei steigen, dann steigen sie auch hier", sagt Akmaz. Derzeit sei die Lage zwar auffällig ruhig, was er auf die Enttäuschung des Erdogan-Lagers über das knappe Ergebnis beim Verfassungsreferendum am 16. April zurückführt. Sollte es aber dazu kommen, dass in der Türkei die Todesstrafe wiedereingeführt wird, dann "werden die Kurden die Ersten sein, die davon betroffen sind", sagt Akmaz. Die Folge: Proteste in ganz Europa – und Gegenproteste der Erdogan-Fans, begleitet von Übergriffen auf Kurden und deren Einrichtungen.

"Das Verhältnis zwischen Türken und Kurden hier war immer ein ständiges Auf und Ab", sagt Ali Gedik, der seit 41 Jahren in Österreich lebt und in der Kurdenbewegung aktiv ist. Immer wieder gab es negative Höhepunkte. Als KK-Führer Abdullah Öcalan 1999 verschleppt wurde, "war auch hier in Wien die Hölle los, Jugendzentren haben gar nicht erst aufgesperrt, aus Angst vor Auseinandersetzungen", erinnert sich Gedik. In der Vergangenheit galt: "Wenn es in der Türkei heftiger wird für die Kurden, dann hier auch." Nun aber, meint Gedik, könnte sich das ändern. Die Erdoganisierung der Türkei könnte bewirken, "dass es konstant heftig wird".

Sommerurlaub abgesagt

Schon jetzt merke man Veränderungen. Die markanteste, und sie betrifft nicht nur Kurden, sondern auch Erdogan-Kritiker oder Gülen-Anhänger: Beziehungen zu Verwandten und Freunden in der Türkei aufrechtzuerhalten, wird immer schwieriger. Viele hätten Angst, bei der Einreise in die Türkei festgenommen oder an der Ausreise gehindert zu werden und würden den jährlichen Sommeraufenthalt bei der Restfamilie heuer absagen.

Belastend sei aber auch die Sorge um Angehörige und Freunde, die selbst von der Repression betroffen sind. Die Anrufe von Verzweifelten, die erwägen, die Türkei zu verlassen, um in Sicherheit in Europa zu leben, nehmen zu. Die Hoffnung, ihre Netzwerke in Österreich könnten ihnen helfen, sich hier niederzulassen, werden aber oft enttäuscht. Es sei "extrem schwierig, ein Visum zu bekommen", sagt der Wiener Rechtsanwalt und Fremdenrechtsexperte Clemens Lahner, der als Mitglied einer internationalen Beobachterdelegation an einem Massenprozess gegen Rechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten in der Türkei teilnimmt. Auch für gefragte Wissenschafter sei es kaum möglich, sich hier anzusiedeln. Bleibt nur noch der Weg übers Asylverfahren: Das wiederum komme aber nur für jene infrage, "die sich sicher sind, dass sie alle Brücken in die Türkei abbrechen wollen", sagt Lahner. Denn wer als politisch verfolgt anerkannt ist, muss auf Reisen ins Herkunftsland verzichten – und damit auch den persönlichen Kontakt zu Angehörigen und politischen Mitstreitern abbrechen.

Der berüchtigte lange Arm Erdogans sei auch in Wien spürbar, sagt Ali Gedik. "Man hört von vielen Menschen: Pass auf, was du sagst, was du auf Facebook teilst. Die Menschen sind viel vorsichtiger geworden." Auch er schaue sich vorher um, wenn er sich in einem Lokal über die Lage in der Türkei unterhalte. Die Türkei habe zwar schon immer ihre Spitzel quer über Europa verteilt. Ein öffentlicher Aufruf der AKP-finanzierten Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), man möge doch bitte Erdogan-Kritiker denunzieren, habe es aber quasi amtlich gemacht, dass sich der Geheimdienst Unterstützung in der breiten Exilbevölkerung holt. Zwei Monate nach dem Putsch in der Türkei hätten seine Freunde auf Facebook plötzlich aufgehört, seine Einträge zu liken, sagt Gedik. "In privaten Nachrichten haben sie mir gestanden, dass sie Angst haben."

Gedik kam als 15-Jähriger aus der Osttürkei nach Österreich. Er lebte als Fabriksarbeiter in Vorarlberg, verlängerte Jahr für Jahr seine Aufenthaltsbewilligung, doch nach dem Militärputsch 1980, als Bruder und Vater gefoltert wurden und dabei auch immer wieder sein eigener Name fiel, suchte er um Asyl an. In den 1990er-Jahren zog er von Vorarlberg nach Wien und begann als türkischsprachiger Streetworker in der mobilen Jugendarbeit zu arbeiten. Dabei war er immer politisch aktiv. Im Jänner 2016 stellte er sich fünf Tage lang auf den Karlsplatz und trat in den Hungerstreik – als Protest gegen die gezielte Zerstörung kurdischer Städte durch den türkischen Staat. Gedik weiß, dass er für längere Zeit nicht mehr zu Verwandten in die Türkei fahren kann.

Böser Türke, guter Kurde

Um Kurden ranken sich viele Mythen. Verbreitet ist die Annahme, Kurden aus der Türkei seien liberaler als Türken, sie seien allesamt Erdogan-kritisch, weniger fromm, mehrheitlich alevitisch und in Bezug auf Geschlechterrollen progressiv. Diesem positiv besetzten Kurden-Klischee wird das Negativbild des rückwärtsgewandten, konservativen Türken gegenübergestellt.

Die Realität ist komplizierter. Die Mehrheit der Kurden gehört einem sunnitischen Islam an. Viele von ihnen besuchen dieselben Moscheeeinrichtungen wie nichtkurdische Türken, sagt Politikwissenschafter Thomas Schmidinger. So gebe es etwa einige Kurden, die sich in der konservativen Milli-Görüs-Bewegung beheimatet fühlen. Den Anteil der Aleviten unten den Kurden beziffert Schmidinger mit rund 25 Prozent, wobei auch hier zuverlässige Aussagen schwierig seien.

Die Einschätzung, dass alle Kurden Erdogan-Kritiker seien, ist jedenfalls falsch. Unter ihnen gebe es viele treue AKP-Fans, sagt Schmidinger. Das lässt sich auch aus der Geschichte erklären: Im Vergleich zum Kemalismus, der alle Angehörigen des türkischen Staates auf ein strammes, assimiliertes Türkentum eingeschworen hat, erschien die islamorientierte AKP vielen als wohltuende Alternative. Erdogans Partei steht zudem für mehrere prokurdische Reformen in der Türkei. In letzter Zeit scheint sich dieses positive Image aber zu wandeln.

Lob für Kern und Kurz

Während Österreichs Forderung nach einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei von manchen als Populismus kritisiert wurde, hält Kurden-Vertreter Hüseyin Akmaz das scharfe Auftreten der Bundesregierung für positiv. "Österreich hat im Vergleich zu Deutschland eine starke Haltung bewiesen", sagt Akmaz. "Es ist wichtig, offen zu zeigen, dass man so ein Vorgehen nicht dulden kann."

Die Erwartung, hier eingebürgerte Türken und Kurden mögen nicht in Österreich für türkische Politik auf die Straße gehen, hält Ali Gedik, der seit langer Zeit österreichischer Staatsbürger ist, hingegen für "absurd". Schließlich sei es auch akzeptiert, wenn sich in Österreich lebende Franzosen für die Wahlen in Frankreich interessieren. Man könne von Menschen, die in einem anderen Land aufgewachsen sind, nicht verlangen, dass sie alle Wurzeln abschneiden. "Ich selbst war von dieser Brutalität betroffen, bis ich 15 Jahre alt war", sagt Gedik. "So etwas kann man nicht vergessen." (Maria Sterkl, 6.5.2017)