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Christine Macel kuratiert die Hauptausstellung der Biennale von Venedig. In 135 Jahren ist sie die vierte Frau in dieser Funktion.

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STANDARD: In der langen Geschichte der Biennale von 1895 bis heute sind Sie erst die vierte Frau, die sie kuratiert.

Macel: Durch die Ungleichheit der Geschlechter wird ständig betont, dass jemand ein weiblicher oder männlicher Kunstschaffender, ein weiblicher oder männlicher Kurator ist. Ich denke, das Problem wird dann gelöst sein, wenn ich das nicht mehr gefragt werde. Ich möchte nicht in die Schub-lade "weiblicher Kurator" gesteckt werden. Ich bin ein Kurator.

STANDARD: Ihre Vorgänger hatten Generalthemen wie "Welten bauen", "Aufklärung", "Il Palazzo Enciclopedico" oder "All the world's futures". Sie nennen Ihre Ausstellung im Hauptpavillon und im Arsenale "Arte Viva Arte". Was genau darf man sich darunter vorstellen?

Macel: Ich habe kein Generalthema, mein Hauptinteresse gilt dem Künstler selbst. Sehr oft können Kuratoren ihr Motto nicht umsetzen, denn entweder ist es zu eng gedacht, oder es löst sich auf und wird beliebig, wenn es zu weit gefasst ist. Meine Idee war, kontextuell auf die Arbeit jedes einzelnen der 120 Künstler einzugehen. Ich sehe die Ausstellung als eine Art Erzählung, als einen Parcours durch die Gegenwartskunst. Sie erinnert, wenn Sie so wollen, an einen Bildungsroman.

STANDARD: Eine sehr literarische Herangehensweise.

Macel: Ja, ich habe Literatur studiert, mein Hirn ist sozusagen zwischen Büchern und Kunstwerken zweigeteilt. Den Titel habe ich gewählt, weil er endlos wiederholt werden kann, ein Loop, der das Leben, die Kunst feiert. Das ist der Grundton, den ich der Biennale geben möchte, auch wenn einzelne Arbeiten natürlich auch politische Themen wie Migration zum Inhalt haben. Andere Künstler – nicht ich als Kurator – hinterfragen das Medium Kunst. Ich verstehe mein Konzept als Affirmation des freien Willens und möchte einen Rahmen schaffen für offene Fragen – mehr noch als für Kritik. Begriffe wie Freude, Spaß, Angst, Aggression, Gefühl sind ja in einem sehr theorielastigen Kunstdiskurs zunehmend abhandengekommen. Ich möchte sie wieder zurückbringen, reintegrieren.

STANDARD: Das klingt sehr optimistisch, fast naiv in einer zunehmend disparaten Welt.

Macel: Ja, wenn Sie es als Optimismus des freien Willens verstehen! Aber es ist nicht naiv. Es ist doch so, dass man sich nicht getraut, gewisse Dinge zu benennen – aus Angst, als naiv zu gelten. Aber das Risiko nehme ich auf mich! Ich sehe es – auch – als kuratorisches Problem, dass Kunst sehr oft instrumentalisiert, politischen und anderen partikularen Interessen untergeordnet wird. Das mag ich nicht. Die Entscheidung, Künstler zu werden, bedeutet, eine gesellschaftliche Position zu beziehen. Man muss also in der Kunst nicht unbedingt über Revolution sprechen. Kunst zu machen allein ist ein revolutionärer Akt, ein Akt des Widerstands, der Freiheit – ein Akt, der auf die Zivilgesellschaft Auswirkungen hat. Stellen Sie sich eine Welt ohne Kunst vor!

STANDARD: Täuscht es, oder erinnert Ihre Herangehensweise, Ihr Anspruch auch an Harald Szeemanns bahnbrechende Biennale "Plateau der Menschheit"?

Macel: Ich habe versucht, ausschließlich meinen eigenen Intuitionen zu folgen. Aber als ich mein Programm dem Biennale-Präsidenten Paolo Baratta vorstellte, meinte er, meine Biennale sei für ihn von ähnlicher Bedeutung wie jene Szeemanns. Auch Szeemann fokussierte auf die Künstler, auf Humanismus, Individualismus, aber bei ihm war es eher introspektiv, ich möchte fast sagen: melancholisch. Ich will zeigen, welche unschätzbare Rolle Künstler in dieser konfliktreichen Welt innehaben, in welcher der Humanismus in großer Gefahr ist.

STANDARD: Was erwarten Sie von der Kunst?

Macel: Ich erwarte, dass sie mich etwas lehrt. Dass ich durch sie Erfahrungen mache, die mich verändern. Kunst ist meiner Meinung nach die Möglichkeit, die Welt neu zu definieren: nicht zu verändern, aber ihr einen neuen Sinn zu geben. Kunst hat allein durch ihre pure Existenz das Potenzial, die Zukunft neu zu schreiben.

STANDARD: Sie nennen die einzelnen Kapitel Ihrer Ausstellung Trans-Pavillons: eine Referenz an die Pavillons in den Giardini? Ist deren nationale Zuordnung in Zeiten der Globalisierung nicht sehr anachronistisch?

Macel: Ja natürlich, Künstler sind nicht mehr national verwurzelt, sie arbeiten trans- und international, deshalb nenne ich die neun Kapitel meiner Ausstellung auch Trans-Pavillons. Andererseits kann man die historische Dimension der Venedig-Biennale nicht verleugnen, die Reflexion über innereuropäische Beziehungen sowie jene zwischen Europa und dem Rest der Welt. Und schließlich erinnern Pavillons natürlich auch an eine sehr alte Tradition symbolischer Repräsentanz, denken Sie nur an die chinesische Architektur.

STANDARD: Kann man einzelne Kapitel Ihrer Biennale wahllos aufschlagen, oder empfiehlt es sich, sie sozusagen chronologisch zu lesen?

Macel: Idealerweise beginnen die Besucher im Hauptpavillon, wo die ersten beiden Kapitel von der Künstlerpersönlichkeit und vom Kunstschaffen an sich handeln, von Gefühlen und Empfindungen, von Selbstreflexionen, von der Dialektik des Machens und Ruhens. Im Arsenale öffnet sich mit dem dritten Kapitel, dem Pavillon der Gemeinschaft, der Weg vom Innen ins Außen. In weiterer Folge geht es um Beziehungen zueinander, um Umwelt, Traditionen, Angst, Freude, Sexualität, Spiritualität – die Reise endet schließlich im Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit: im Unbekannten.

STANDARD: Sie betonen immer wieder, dies sei eine Biennale von, für und mit Künstlern. Waren das denn nicht auch alle vorangegangenen Biennalen?

Macel: Für mich konzentriert sich der öffentliche Diskurs zu sehr auf den Markt, den Geldwert von Kunst und auch darauf, ob die Kunst tagesaktuelle Themen verhandelt. Das führte zu einer Verzerrung der künstlerischen Arbeit. Ich möchte eine aus der Balance geratene Hierarchie wiederherstellen: Zuerst kommt der Künstler, die Kunst. Der Kurator steht nicht darüber, das sollte nie vergessen werden. Er ist das Bindeglied, der Mittler zwischen dem Künstler und dem Publikum.

STANDARD: Birgt eine Großveranstaltung wie die Biennale die Gefahr in sich, dass Kunst zum puren Event, zum Unterhaltungstool wird?

Macel: Die Biennale dauert sechs Monate, sie wird von 500.000 Menschen besucht, nur 20.000 kommen in der Eröffnungswoche. Die meisten Besucher kommen also sicherlich der Kunst und nicht des Events wegen. (Andrea Schurian, 6.5.2017)