Die Shoa-Überlebende Gertrude Schneider sprach auf Einladung von Doris Bures (SPÖ) bei der Gedenkveranstaltung im Hohen Haus: "Ich sehe die Toten, ich sehe die Gequälten, ich sehe die Verzweifelten. Es ist ein Stück von mir."

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie haben am Freitag vor dem Nationalrat und der Regierung eine Gedenkrede gehalten. Wie war es für Sie nach Wien zurückzukehren?

Schneider: Ich kenne Wien nicht nur von einer schönen Seite, sondern auch von einer hässlichen. Einerseits hatte ich eine glückliche Kindheit. Ich wurde sehr liebevoll erzogen. Die christlichen Lehrer waren nett, obwohl ich Jüdin bin. Wenn meine Schulkolleginnen den Katechismus lernen mussten, bin ich manchmal in der Klasse geblieben und habe gezeichnet. Wissen Sie, wenn ich aufgeregt bin, rede ich wienerisch. Das ist mir am Freitag auch passiert! Aber andererseits habe ich schon meinen zehnten Geburtstag unter Adolf Hitler gefeiert. Ein Vergnügen war das nicht.

STANDARD: Wie wird sich der Blick auf die Geschichte des Holocaust ändern, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?

Schneider: Ich bin eine der letzten Überlebenden. Wenn meine Worte nicht mehr da sind und ich nicht mehr da bin, dann sprechen meine Bücher. Aber ändern wird sich nichts. Es wird immer Kriege und schlechte Menschen geben. Im Laufe der Zeit haben sich die Menschen nicht geändert. Sie sind nur ein bisserl zivilisierter geworden.

STANDARD: Sprechen Sie hier als Historikerin oder als Zeitzeugin?

Schneider: Das weiß ich nicht. Ich sehe einfach schwarz. Schauen Sie: Da war der Erste Weltkrieg, und man hat gesagt: Das ist der letzte! Zwanzig Jahre später haben wir den Braunauer bekommen. Oder nehmen Sie jetzt den Antisemitismus in der Welt. Ich glaube nur an manche Menschen. Aber: Der Pöbel ist leicht aufzureizen.

STANDARD: Weil Sie das auch schon erleben mussten. Wann wurde die Bedrohung durch die Nazis für Ihre Familie spürbar?

Schneider: Als mein Vater aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, war noch nicht viel davon zu spüren. Da gab es noch nicht diese Geschichte, dass die Juden an allem schuld sein sollen. Als Hitler einmarschiert ist, war ich im Märzpark. Eine Schulfreundin kam und sagte, sie dürfe nicht mehr mit mir reden und spielen: "Du bist eine Jüdin. Mein Vater hat das verboten." Ich dachte mir nur, welch ein Blödsinn das ist. Wir lernen doch zusammen und teilen uns die Schulbank.

STANDARD: Ihre Eltern hatten ein Geschäft in der Felberstraße. Wie ist es Ihnen nach dem "Anschluss" ergangen?

Schneider: Unser Geschäft – das Volkswarenhaus Hirschhorn -wurde gleich bei Hitlers Machtübernahme demoliert. Mein Vater war zuletzt im KZ Buchenwald. Er starb zu Kriegsende. Als die Amerikaner den Zugwaggon in Weimar öffneten, war sein Körper noch warm.

STANDARD: Sie selbst wurden mit 14 in ein Ghetto nach Riga deportiert.

Schneider: Ich wurde am 1. Februar 1942 verhaftet und in die Sperlschule, wo ein Sammellager für Deportationen war, gebracht. Ein paar Tage später wurden wir nach Riga geschickt – damals noch alle: Papa, Mama, meine Schwester Rita und ich. Später kamen wir in das KZ Stutthof bei Danzig. Dort wurde ich von meiner Mutter und Rita getrennt. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, mit knapp 16 Jahren allein in einem Konzentrationslager zu sein? Das ist ein Todesurteil. Ich hatte nur Glück.

STANDARD: Es gelang Ihrer Mutter ...

Schneider: ... mich zu retten. Sie hat im Außenlager, in dem sie waren, gesagt, dass ich gelernte Dachdeckerin bin, obwohl das nicht stimmte. Als meine Nummer beim Morgenappell von der Lageraufseherin gerufen wurde, traute ich mich nicht vorzutreten. Ich dachte, jetzt geht es ins Gas. Meine Nachbarin schubste mich vor, damit nicht alle dafür bestraft werden. Die Aufseherin nahm mich mit. Ich habe gewusst, nach rechts geht es zur Gaskammer und zum Krematorium. Geht man nach links, kommt das Eingangstor des Lagers. Wir sind nach links gegangen – und ich kam wieder zu Rita und meiner Mutter, nach Sophienwald. Mir hat vor mir selbst gegraust, aber was hätte ich machen sollen, und ihnen war es egal. Was ich noch sagen will: Mit meiner Schwester stand ich einmal vor jenem Sanitäter, der im Ghetto in Riga die Selektionslisten geschrieben hat. Ich habe meine zwei Jahre jüngere Schwester an der Hand gehalten, und meine Nägel gruben sich tief in ihre Handfläche. Das hat später sehr geblutet. Es war die letzte Aktion auf lettischem Boden. Bis zum Ende ihres Lebens hat sie manchmal diese Stelle gestreichelt, weil ich so große Angst um sie hatte.

STANDARD: Nach Ihrer Befreiung 1945 sind Sie zurück nach Wien gekommen, zwei Jahre später aber in die USA ausgewandert. Haben Sie es in Wien nicht mehr ausgehalten?

Schneider: Der Papa ist nicht zurückgekommen, ohne ihn gab es für uns kein Wien. Ich hatte ja bis zu meinem zehnten Geburtstag eine sehr schöne Kindheit, das hat mich sicher gemacht, die Nazizeit hat mich verunsichert. Ich konnte mich zwar herauswurschteln, aber das war in Wien nicht möglich. Es sind ja nur ein paar Juden zurückgekommen, und wir haben zu den wenigen gezählt. In Ottakring waren viele Geschäfte ausgebombt, da haben die Leute gesagt: "Ihr habt ein Glück gehabt, wir sind alle ausgebombt", weil sie dachten, dass alle Verwandten in die USA geflüchtet sind. Dabei waren sie fast alle tot, sie sind ermordet worden.

STANDARD: War es jemals eine Option nach Wien zurückzukommen?

Schneider: Meine Mutter, meine Schwester, meine Kinder leben in den USA. Mein Mann und ich wollten nicht von den Kindern weg, obwohl ich auch Heimweh nach Wien hatte.

STANDARD: Sie haben oft vor Jugendlichen über das Erlebte gesprochen. Welche Fragen sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

Schneider: Vor zwei Jahren habe ich in der Hauptbücherei einen Vortrag vor einer Klasse gehalten. Ein Schüler ist aufgestanden und hat mich gefragt, was ich zu den Israelis sage, die Palästinenser töten. Ich habe ihm geantwortet: "Sie haben nicht zugehört, ich habe einen Vortrag über die Shoa gehalten, über die Ermordung der österreichischen Juden und Jüdinnen. Ich habe mit Ihren Palästinensern nichts zu tun. Verlassen Sie bitte die Klasse."

STANDARD: Haben Sie mit Ihren Kindern über den Holocaust und die schrecklichen Erfahrungen, die Sie selbst gemacht haben, gesprochen?

Schneider: Erst als sie größer waren. Ich habe ja Bücher darüber geschrieben, und manchmal haben sie etwas erwischt und stellten mir viele Fragen. Wenn Erklärungen verlangt werden, gibt man sie – aber auch in der richtigen Weise. Meine Kinder sagen heute noch manchmal: "My mother never left the camp." Es stimmt. Ich sehe die Toten, ich sehe die Gequälten, ich sehe die Verzweifelten. Es ist ein Stück von mir.

STANDARD: Verfolgen Sie die Erinnerungen?

Schneider: Nein, es ist keine Verfolgung, es wurde ein Teil von mir.

STANDARD: Sie sind so pessimistisch, obwohl Sie viel Kontakt zur Jugend hatten. Warum?

Schneider: Ich fürchte mich für die Jugend. Ich kann mir vorstellen, dass meine Enkel wieder verfolgt werden – eine Unsicherheit vom Lager, die einem immer bleibt. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 8.5.2017)