Alle reden vom Brexit, niemand von der britischen Exzentrizität. Aber es gibt sie noch, diese gloriose Eigenschaft, über die das insulare Volk viel mehr verfügt als der angepasste, des ungehemmten Ausdrucks seiner individuellsten Macken verlustig gegangene Kontinentalheini.

Das würde ihnen auch jeder London-Tourist, der kürzlich von einer Verkäuferin in einem Shop in der Jamaica Road bedient wurde, taxfrei bestätigen. Die Dame war gewiss im siebten Lebensjahrzehnt, hatte die Haare in der Mitte gescheitelt, links feuerrot und rechts froschgrün gefärbt. Die Lady pflog aber nicht nur ein extravagantes Erscheinungsbild, sondern auch eine ebensolche Ausdrucksweise, indem sie jeden Satz, mit dem sie die Kunden an der Kasse bediente, cool mit "My Love", "My Dear", "My Dearest" und ähnlichen pseudoschmachtenden Worten schloss. Ungewöhlich für den Zuagrasten, der in österreichischen Geschäften so gut wie nie mit "Herzinniger" oder "Allerliebster" angesprochen wird.

Alle reden vom Brexit, aber niemand davon, welch Verlust es wäre, wenn wir mit den Briten auch deren Exzentrizität verlören, es also zu einer Brexzentrizität käme. Wo fänden wir auf dem Kontinent Figuren wie den von der Exzentrikforscherin Edith Sitwell beschriebenen Landedelmann John Mytton, der "sein Nachthemd entzündete, um seinen Schluckauf zu kurieren"? Und wo solch wunderbare Shop-Ladys wie in der Jamaica Road? (Christoph Winder, 8.5.2017)