Lemuria, eingezeichnet auf einer Karte von 1896.

Illustration: William Scott-Elliott

In seiner 1936 veröffentlichten Kurzgeschichte "The Haunter of the Dark" beschreibt der amerikanische Schriftsteller H. P. Lovecraft ein seltsames Objekt: Ein "leuchtender Trapezoeder", ein "Fenster der Gesamtheit von Zeit und Raum", das von den "ersten menschlichen Wesen in Lemurien" betrachtet wurde. Der versunkene Kontinent Lemuria findet sich auch in jeder Menge anderen Science-Fiction- und Fantasy-Büchern, er taucht in Filmen, Fernsehserien und Videospielen ebenso auf wie in Musikstücken und Comics.

In den fantastisch klingenden, aber ernst gemeinten Texten der Esoterikerin Helena Blavatsky ist Lemuria die Heimat der "dritten Wurzelrasse" der Menschheit: Die Lemurianer seien über zwei Meter große, eierlegende Wesen von großer Schönheit und umfassendem Wissen, dann aber leider doch in Sünde gefallen, weswegen sie untergehen mussten. So wurde aber schließlich die Entwicklung der Arischen Rasse (laut Blavatsky der Höhepunkt der intellektuellen und spirituellen Evolution) möglich.

Eingang in Esoterik und Popkultur

Geschichten über Lemuria findet man überall in Esoterik, Science-Fiction und Fantasy. Den versunkenen Kontinent hat es in Wahrheit aber nie gegeben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Wissenschaft allerdings gute Gründe, von seiner Existenz auszugehen. Es war die Zeit von Charles Darwin und Charles Lyell, die Zeit also, als sich Biologie und Geologie langsam aus den Fängen der Theologie lösten und man feststellte, dass sich in der Bibel keine exakte Beschreibung der Vergangenheit findet.

Der Geologe Lyell demonstrierte, dass die Erde viel älter sein muss als die paar tausend Jahre, die ihr von der christlichen Religion zugestanden wurden. Der Biologe Charles Darwin zeigte wiederum, wie sich die verschiedenen Arten der Lebewesen ganz von selbst durch natürliche Auslese im Rahmen der Evolution entwickeln konnten. Und überall machten sich Naturforscher daran, die Welt mit neuen Augen zu betrachten.

Suche nach Erklärungen

Zu ihnen gehörte auch der englische Zoologe Philip Lutley Sclater. Er untersuchte bestimmte Primatenarten und fand sie in Madagaskar ebenso wie in Indien und Sri Lanka. An weit voneinander entfernten Orten also, obwohl die Tiere alle eng miteinander verwandt schienen. Auch andere Forscher hatten ähnliche Entdeckungen gemacht: Einander sehr ähnliche Pflanzen und Tiere fanden sich an weit entfernten Orten der Erde, durch Ozeane getrennte.

Das zu erklären stellte die Forscher vor ein Problem. Bei kurzen Distanzen, wie zum Beispiel zwischen den Galapagos-Inseln, die Darwin erforschte, konnte man sich noch vorstellen, dass manche Tiere von Ort zu Ort schwammen, mit Treibholz transportiert oder vom Wind "verblasen" wurden. Aber das funktioniert nicht bei vergleichsweise großen Säugetieren und Distanzen wie der zwischen Afrika und Indien.

Plausible Hypothese

In seinem 1864 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel "The Mammals of Madagascar" schlug Sclater daher eine neue Hypothese vor. Die Kontinente könnten früher durch Landbrücken verbunden gewesen sein. Landbrücken, die mittlerweile im Meer versunken sind – so wie "Lemuria", wie Sclater seine Verbindung zwischen Afrika und Indien nannte (nach dem von ihm dort studierten Lemuren). Aus heutiger Sicht klingt das seltsam, nach dem damaligen Wissensstand war das aber eine durchaus plausible Hypothese.

Man wusste durch die geologischen Untersuchungen schon, dass vertikale Bewegungen der Kontinente stattgefunden hatten. Man fand Fossilien von Fischen oder Muscheln hoch oben im Gebirge und entdeckte Spuren, die auf einen in der Vergangenheit steigenden bzw. fallenden Meeresspiegel hinwiesen. Warum soll da nicht auch mal ein ganzer Kontinent unter Wasser geraten? Ein Kontinent, der Afrika mit Indien verband und es den Tieren erlaubte, sich überall dorthin auszubreiten wo man sie heute findet.

Andere Wissenschafter griffen Sclaters Idee von Lemuria auf. Der deutsche Biologe Ernst Haeckel, der unter anderem für die Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie im deutschsprachigen Raum verantwortlich war, zeichnete beispielsweise den Kontinent auf einer Karte seines Buches "Natürliche Schöpfungsgeschichte" ein und machte ihn sogar zum Ausgangspunkt der Verbreitung der Menschen über die Erde. Selbst Friedrich Engels erwähnt in seiner "Dialektik der Natur" die "wahrscheinlich auf einem großen, jetzt auf den Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande" als Heimat einer hochentwickelten Primatenrasse.

Kontinentalverschiebung

Dann aber kam Alfred Wegener. Mittlerweile wusste man schon besser über die Gesteine der Erde und ihre Eigenschaften Bescheid, und am 6. November 1911 diskutierte er die Hypothese der versinkenden Kontinente mit dem russischen Naturforscher Wladimir Köppen: "Ein Kontinent kann nicht versinken, denn er ist leichter als das, worauf er schwimmt. Warum sollten wir zögern, die alte Anschauung über Bord zu werfen?"

Wegener zögerte dann auch nicht weiter und schlug seine neue Theorie der Kontinentalverschiebung vor: Nicht Landbrücken verbanden früher die Kontinente – die Kontinente selbst waren früher verbunden und haben sich erst im Laufe der Zeit auseinander bewegt. Leider konnte Wegener damals noch keinen Mechanismus angeben, der für eine Bewegung der Kontinente sorgen könnte, und so dauerte es bis in die 1960er Jahre, ehe sie durch neue Erkenntnisse und als Bestandteil der modernen Theorie der Plattentektonik allgemein anerkannt wurde.

Sclater hatte sich geirrt, was die Existenz von Lemuria anging. Die Hypothese war damals plausibel, hielt neueren Erkenntnissen allerdings nicht stand. Das ist ein normaler Prozess in der Forschung und eigentlich kaum weiter bemerkenswert. Sein Irrtum illustriert aber wunderbar, auf welche Weise man mit so einem Irrtum umgehen kann: Während Lemuria in der Wissenschaft heute keinerlei Rolle mehr spielt, befindet sich die Esoterik immer noch auf dem Stand des 19. Jahrhunderts und diskutiert fröhlich über die Bewohner eines Kontinents, den es nie gegeben hat. (Florian Freistetter, 9.5.2017)