Derrick Ryan Claude Mitchell fordert die atavistische, körperbezogene Natur des Theaters heraus.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Derrick Ryan Claude Mitchell, kurz Ryan Mitchell, wuchs in Reno, Nevada, auf und damit unmittelbar in der Nähe zu jenem Ort in den Bergen, wo Mitte des 19. Jahrhunderts ein großer Siedlertrack, der im "Goldrausch" gen Westen unterwegs war, im Schnee unrettbar verlorenging. Nur wenige Menschen dieser "Donner-Party" überlebten – durch Kannibalismus. Dieses zum Mythos gewordene Ereignis ist Referenzpunkt in den aktuellen Arbeiten Ryan Mitchells.

Der Theaterregisseur und Leiter der Gruppe Saint Genet war mit rituellen, zwischen Artauds Theater der Grausamkeit und dem Wiener Aktionismus angesiedelten Performances seit 2010 regelmäßig Gast beim Donaufestival in Krems. Tomas Zierhofer-Kin, damals in Krems Leiter, kann die in Seattle beheimatete Gruppe nun zurecht als seine Entdeckung bei den Wiener Festwochen präsentieren. Der vom 16. bis 20. Mai in der Halle G im Museumsquartier laufende Abend "Promised Ends: The Slow Arrow of Sorrow and Madness" ist der dritte, abschließende Teil einer Serie über das Erodieren des Humanen. Sie ist, so Mitchell, "weniger text- als traumbasiert".

STANDARD: Sie beziehen sich in "Promised Ends" auf "King Lear". Was war der gedankliche Link zwischen dem Kannibalismus der "Donner-Party" und dem verrückt werdenden König?

Mitchell: Mich interessiert, wie Zivilisationen notwendigerweise niedergehen. Man kann eine Allegorie erschaffen, in der die USA selbst zu einem King Lear werden. Sie sind ein sterbendes Empire, das herumdrischt, um seine Macht in der Welt zu erhalten. Und dabei geben wir die allerwertvollsten Dinge auf, die dringlichsten Ideale. Genau das tut Lear auch. Er verliert das, was am wertvollsten ist, indem er über die Liebe der Töchter herrschen möchte.

STANDARD: Sie beziehen sich weniger auf Shakespeares "Lear" denn auf die filmischen Interpretationen von Jean-Luc Godard und Akira Kurosawa. Warum?

Mitchell: Es geht um die verschiedenen Sichtweisen auf Lear. Kurosawas Ran war damals, 1985, einer der teuersten japanischen Filme, während "King Lear" von Godard (1988) ein sehr persönlicher, kleiner Film ist, fast ein Joke. Es sind zwei mir wertvolle, gegensätzliche Formen eines poetischen Verständnisses.

STANDARD: Godards Film wirkt amerikanisch. Norman Mailer, Peter Sellars, Woody Allen spielen mit. War das für Sie ein Link, um die Tragödie besser in einen amerikanischen Rahmen zu fassen?

Mitchell: Wir verwenden "King Lear", weil es Shakespeares vielleicht vieldeutigste Tragödie ist. Es gibt keinen klaren Schluss, jeder bleibt unwissend zurück. Godard und Kurosawa interpretieren das diametral entgegengesetzt. Wie zwei künstlerische Väter, die dir verschiedene Dinge mit auf den Weg geben, aber letztlich das Gleiche sagen: Macht und Tugend, Glauben und Sehnsucht.

STANDARD: Ist "Promised Ends" eine Weiterentwicklung im konkreten Setting von Krems mit der Lichtskulptur von Ben Zamora?

Mitchell: Ja. Wir haben den Latexboden geteilt und ein Alabasterpflaster eingelegt. Wenn man darauf tritt, bricht es. Es wird Asche regnen, auch Wasser. Das Material selbst enthält Geschichte.

STANDARD: Was verändert der Theaterraum in der Halle G im Unterschied zum White Cube?

Mitchell: Wir haben einen Orchestergraben gebaut. Die Lichtskulptur reicht jetzt bis in die sechste Sitzreihe. Wir können so die Perspektive verwenden, um neue Bedeutungen zu kreieren.

STANDARD: Inwiefern sind die Donner-Siedler noch sichtbar?

Mitchell: Sie sind textlich sichtbar. Es geht mir aber weniger um die Narration der "Donner-Party" als um das Verstehen von erzwungener Migration und der damit verbundenen Zerstörung. Ein zentraler Satz dazu stammt von Herbert Blau: "Wir kommen nie dort an, selbst wenn wir dort ankommen." Gemeint ist, dass wir mit all den Dingen, die wir zurücklassen müssen, und den am Weg erlittenen Verlusten, nie im versprochenen Land ankommen, selbst nachdem wir dort angekommen sind.

STANDARD: Das Bild von den 1846 im Schnee zum Verhungern verdammten Menschen entspricht dem von einem überfüllten Flüchtlingsboot heute.

Mitchell: Ja, aber wir sehen in dem Bild immer die Geretteten. Wie viele Menschen aber ertrinken unbemerkt? Die Eltern der Darstellerin Lily Nguyen zum Beispiel waren vietnamesische Flüchtlinge. Sie schafften es damals auf eines der Boote, diese wurden einfach ins Wasser gestoßen, einige von ihnen trieben dann zu den Philippinen, wo auch Lily geboren wurde. Ohne Bürgerstatus. Viele der Boote schafften es aber nicht. Wir wissen, was mit ihnen passiert ist, aber wir wissen immer nur einen Bruchteil davon. Das prägt das kulturelle Bewusstsein.

STANDARD: Im Unterschied zu Ihren beiden vorangegangenen Arbeiten, die einmal 72 Stunden und einmal als sechstägige Dauerperformance stattgefunden haben, ist "Promised Ends" mit zwei Stunden 30 Minuten erstaunlich kurz. Was ist anders?

Mitchell: "Promised Ends" ist der diesen Prozess abschließende Teil. Wir arbeiten mit Performancekunst, die wir hiermit sozusagen zurück ins Theater tragen. Dass Performancekunst wahr sei, Theater aber falsch, wie es Marina Abramovic einmal sagte, das stimmte vielleicht für eine gewisse Zeit, heute aber nicht mehr.

STANDARD: Sie zitieren im Stück Kurosawa: "Buddhas, Muhamads, Jesu Erbarmen ist entschwunden". Was heißt das für Sie?

Mitchell: Wir müssen aufhören zu glauben, dass es jemanden gibt, der unsere Probleme löst. Überhaupt: Der neue Gott ist das Internet. Und auch dieser Gott wird sterben müssen.

STANDARD: Immersion ("Eintauchen") ist das Zauberwort im zeitgenössischen Theater. Es trifft auf Ihre Arbeiten besonders zu, nicht?

Mitchell: Es ist meiner Ansicht nach ein ziemlich redundantes Wort. Alle vier, fünf Jahre erfindet die Kunstwelt neue Begriffe, um den Diskurs neu anzufachen. Zuletzt war es "liminal" ("an der Wahrnehmungsgrenze"). Theater ist per se immersiv. Disneyland oder der Prater sind immersiv. Auch die Ostermesse im Stephansdom ist sehr immersiv!

STANDARD: Sie beziehen in Ihrer Arbeit stets "American Hysteria" mit ein, also Beispiele eines gesellschaftlichen Erregungszustandes, in dem poetische und narrative Wahrheit kollidieren. Im aktuellen Stück ist das niemand Geringerer als "Rocky". Warum er?

Mitchell: "Rocky" ist US-amerikanische Mythologie. Seine Geschichte hat einen interessanten Bogen, denn "Rocky" beginnt als wunderbarer Independentfilm und endet nach dreißig Jahren im totalen Chaos. Stallone selbst ist eine Star-Persona, in die Amerika vieles hineinprojiziert: Er war Rambo, er war in der "Muppet Show", und dann bietet ihm Donald Trump den Chefposten in der NEA (National Endowment for the Arts) an – und er lehnt es ab! Es ist absurd und lustig. Es ist aber zugleich gar nicht lustig. Denn genau aufgrund solcher Projektionen haben die Amerikaner Donald Trump gewählt. Trump erscheint ihnen wie Rocky – taff, witzig und ernst. Das ist erschreckend. (Margarete Affenzeller, 9.5.2017)